Wenn man sich so nach und nach durch Montaignes Essais (in der schönen Übersetzung von Hans Stilett) liest, könnte man leicht eine Seite mit treffenden Zitaten füllen, die zusammen auch den Zitierenden charakterisieren würden. So ganz aus zweiter Hand möchte ich dieses Geschäft allerdings nicht betreiben; ab und an entsteht ein Gedanke oder drängt sich mir eine Beobachtung auf, die ich mitteile, wenn ich mir einen interessierten Adressaten vorstellen kann. Ob es nun gerade Geistesblitze sind, ob ich den Verdacht hege, zuerst auf den Gedanken gekommen zu sein, soll dabei keine große Rolle spielen. (Wenn ich freilich weiß, dass ein anderer das Gleiche besser gesagt hat, zitiere ich ihn lieber.) Wie privat es hier zugehen wird, muss sich zeigen. Aber keine Sorge: Der Besucher, der neugierig auch diese Unterseite angeklickt hat und nun plötzlich quasi direkt neben meinem Schreibtisch steht (keine Angst, der Pfau ist zahm) …
… ist mir nicht unvermutet zu nahe getreten. Trotzdem sollte ich ihn warnen: Hier ist nicht aufgeräumt (d.h. hier stört es mich nicht, dass nicht aufgeräumt ist). Hier geht es nicht wissenschaftlich zu, hier wird kein philosophisches Handwerk ausgeübt, denn hier fehlen allerorten Belege und für meine Behauptungen ist statt solider, zur Verallgemeinerung einladender empirischer Befunde bloß meine Wahrnehmung die (eingestandenermaßen) schwankende Grundlage. Ungeordnetes und Unfertiges bleibt absichtlich so; wenn man Romantiker wäre (ist ein Philosophiehistoriker nicht qua talis so einer?), würde man von ›Fragmenten‹ sprechen … Hier werden leicht Meinungen laut, Urteile abgegeben, die der Besucher nicht teilen wird. Solche Freiheiten nehme ich mir an dieser Stelle heraus, denn dafür habe ich den Ort geschaffen. Es kann auch sein, dass die Texte einfach langweilen, gar anöden! Darauf habe ich es aber nicht abgesehen …
Technisch ist in diesem Gehäuse nichts auf der Höhe: Es gibt keine Blog-Funktionalität (denn eigentlich weiß ich nicht recht, wozu die gut sein sollte – der neue Homepage-Baukasten stellt so etwas zur Verfügung, ich muss es irgendwann mal ausprobieren), das kommt dem social-media-erfahrenen Besucher vielleicht unpraktisch vor. Ich behandle diese Seite einfach wie einen Stapel: Das neueste Blatt liegt oben, und indem ich neue Blätter dazu lege, wandern die alten nach unten. Wenn der Besucher von oben nach unten liest, kann er aufhören, sobald er auf Bekanntes stößt (vorher gefälligst nicht!).
Wie man links sieht, gibt es noch einen zweiten Stapel, der Notizen über (meistens nicht-philosophische) Bücher enthalten wird – Bewertungen nach der Lektüre, Gedächtnisstützen zu Details, aber auch (unten auf der Seite) Zitate, die sich vielleicht noch einmal anderweitig verwerten lassen … Montaigne ist natürlich auch dabei!
Besonnenheit im Kriege, oder: Probleme der einen und Pflichten der anderen Leute
Heute ist in einer Zeitschrift, die ich nicht regelmäßig lese, ein Text publiziert worden, dessen programmatischen Inhalt tagesschau.de unter der (auch die Berichterstattung der ARD kennzeichnenden) Überschrift »Prominente fordern Scholz zu Besonnenheit auf« wiedergegeben hat. Ich habe den Publikationsort ergoogelt und den ziemlich kurzen Text gelesen. Danach war es mit meiner Besonnenheit wieder einmal vorbei:
Es gibt Leute, die im Laufe des Krieges gegen die Ukraine immer wieder bemerken, dass die Positionen, die sie je schon vertreten haben, richtig waren und sind und sich wunderbar bewähren würden, hätten nicht andere über dem Kriegsgeschrei des Westens (die anderen sprechen vorsichtiger, vielleicht besonnener, von einer Spezialoperation) die Nerven und den Verstand verloren. Zur ersten Gruppe von öffentlich Denkenden und Meinenden gehören die Autoren und Unterzeichner eines »Offenen Briefes« an den Bundeskanzler, der heute in der in Köln erscheinenden Zweimonatsschrift »Emma« veröffentlicht wurde. Zweck des Schreibens ist es, Scholz dazu zu bewegen, vor weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine Abstand zu nehmen:
»Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.« – Zu einem Waffenstillstand, der auf einem »Kompromiss« zu beruhen hätte, kann es also nach Ansicht der Autoren nur kommen, wenn die Ukraine keine weiteren Waffen erhält, mit denen sie sich effektiv verteidigen kann, wenn also allein die russische Seite reichlich mit schweren Waffen aller Art ausgerüstet bleibt (von denen sie, wie man jeden Tag sieht, auch hemmungslos Gebrauch macht, allerdings zu Angriffs- und Eroberungszwecken). Soso. Klingt komisch, aber auch nach Beginn des Krieges hört man das immer wieder, nicht nur von den Erstunterzeichnern dieses Briefs. Stimmt auch irgendwie: Schneller wird ein »Kompromiss« allemal geschlossen, wenn eine Partei das Angebot der anderen nicht ablehnen kann.
Die Autoren räumen freilich andererseits eine moralische Pflicht ein, »vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen«. Diese Pflicht habe aber ihre Grenzen. Will sagen: Wenn diese Grenzen erreicht sind, soll man, muss man der Gewalt
ohne weitere Gegenwehr weichen? Ja, wirklich?
Die Grenzen werden benannt: »Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.« Das ist ein merkwürdiges kategorisches Verbot in einer Sache, die ihrer Natur nach graduell ist, wenn schon mehrere Staaten Nuklearwaffen besitzen. Aber vielleicht geht es nur um das Manifest-werden des Risikos? Wann wird diese Gefahr manifest? Wenn eine Partei unverhohlen mit der Anwendung von Atomwaffen droht (und man deren Führer für verrückt genug hält, sie wirklich einzusetzen)? Dann muss die andere Seite sofort kapitulieren? Es ist kategorisch verboten, auch nur das klar erkennbare Risiko der Eskalation zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen, wenn man sich gegen einen Angriff wehrt? Offensichtlich kann man die Gegenwehr gleich sein lassen und sich die eigenen Verluste ersparen (richtig nett sieht es in manchen Orten der Ukraine
jetzt schon nicht mehr aus), wenn der Angreifer zufällig eine Atommacht ist. Diese Macht müsste ja nur mit ihren Nuklearwaffen drohen, wenn es mit den konventionellen Waffen nicht so flutscht … (genau das ist übrigens der Fall).
Das sagen die Autoren natürlich nicht, sondern: »Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen.« Die Lieferung kleiner Mengen schwerer Waffen und großer Mengen leichter Waffen dagegen nicht? Wieso? Wo steht das geschrieben? Wie würde denn Deutschland durch diese Lieferungen Kriegspartei? Indem die russische Seite auf diese Lieferungen mit einem (meinetwegen: Gegen-)Angriff auf mindestens ein NATO-Land reagierte, anders nicht. (Das steht in dem Offenen Brief auch im nächsten Satz.) Es gibt keine Garantie, dass Putin und Komplizen nicht so handeln werden. Bei anderen Waffenlieferungen aber auch nicht, explizit hatte sich das Putin-Regime zu Anfang des Überfalls auf die Ukraine ja jede Einmischung verbeten. Fast alle NATO-Staaten und einige andere haben sich aber durch Wirtschaftssanktionen und die Lieferung von Waffen und Informationen an den Angegriffenen eingemischt. Die russische Seite hat trotz vieler drohender Worte bislang
außerhalb des ukrainischen Territoriums nichts gegen die westlichen Waffenlieferungen unternommen. Der Grund liegt auf der Hand. (Für die, die ihn nicht erkennen: Wenn die russischen Angriffstruppen schon nicht mit der kleineren und schlechter bewaffneten ukrainischen Armee fertig werden, ist es nicht gerade vielversprechend, gleich mehrere weitaus stärker bewaffnete Armeen zu Kampfhandlungen herauszufordern. Man kann freilich nie wissen … Hitler hat den USA den Krieg erklärt, nicht umgekehrt …)
Aber: Deutsche Intellektuelle schreiben, da geht es nicht um Interessen, Macht und Kalkül, iwo. »Verantwortung« ist die Parole. Die hat nicht nur der »ursprüngliche Aggressor«, nein, sie geht, so die mahnenden Worte, »auch diejenigen« an, »die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern«. Ei, ei, ein Motiv liefern. Das reicht? Die Aussicht auf Beute etwa? »Verantwortung« hat dann nicht nur der Räuber, sondern auch der Juwelier (die Bank eh, klar, wir sind ja irgendwie alle antikapitalistisch, nicht wahr, c’est chic toujours).¹ Das ist garstig, wenigstens dem Juwelier oder auch der weiland Rentnerin gegenüber, die einmal im Monat das
Motiv lieferte, ihr die Rente zu rauben, als die noch bar ausgezahlt wurde. Ein anderes Motiv! Sagen wir, die Aussicht, das erste Verbrechen ungestört zu Ende bringen zu können? »Verantwortung« dafür, dass er vom Mörder auch noch erschossen wird, hat, meinen die Autoren, »auch« derjenige, der dem Opfer zu Hilfe kommen will. Zweifelsohne ›liefert er ein Motiv zu verbrecherischem Handeln‹. Wir reden von Verantwortung, da würden wir es uns gewiss zu einfach machen, wenn wir bloß vom Übeltäter verlangten, er möge von der üblen Tat ablassen … (Das Opfer soll den Täter nicht provozieren … naja, ein heikles Thema, zumal in der »Emma« …)
Das ist ein bisschen heillos, ganz werden diese Denkerinnen und Denker es nicht so meinen, wie sie geschrieben haben … Sie haben zu ihrem Glück noch mehr Argumente, so das mit der anderen Grenze:
»Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.« Tja, irgendwann … vielleicht. Das gibt aber keine
Linie. Der Prämisse hätten ein paar ältere Deutsche (Kant, Schiller, Hölderlin zum Beispiel, allerdings weiße alte Männer) übrigens widersprochen. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, sondern, um es kurz zu machen, die Freiheit. Das ist ein gefährliches Wort, ja. Aber man wird niemanden zwingen wollen, sich einem fremden Diktator (Mörder übrigens auch) zu unterwerfen, weil die Fortsetzung des Widerstands Leid und Elend mit sich bringt, oder?
Die Autoren meinen: Doch! Es sei nämlich ein Irrtum, »dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.« Hier ist raffinierterweise die ukrainische Regierung statt des ukrainischen Volkes genannt. Stimmt ja irgendwie auch, als Staatsvolk handelt man durch die Regierung (ansonsten wird jeder einzeln vom Besatzer erschossen oder verschleppt, wenn er … Dummheiten macht). Und so haben wir das erbauliche Ergebnis, dass nicht die Ukrainer entscheiden, wann
ihr Leid den Wert
ihrer Freiheit übersteigt, sondern
die universale Vernunft … in der konkreten Gestalt der Einsichten der Autoren des Offenen Briefes und hernach gefälligst des Bundeskanzlers. Die Wertentscheidung muss qua Universalität der Moral von der
deutschen Regierung getroffen werden und nicht von der
ukrainischen. Höhere Einsicht hat man allemal im einstweilen sicheren Hinterland … Honi soit qui mal y pense. (So ein Schelm bin ich aber.)
Auch nicht so überzeugend, wenigstens nicht gerade zwingend? Man muss die Dinge schließlich und endlich nicht nur mit praktischer Vernunft betrachten, sondern sie auch globalgalaktisch sehen: »Die […] eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden [wir wollen den Unterschied zwischen Diktatur und Willkürherrschaft und Demokratie und Rechtsstaat auch nicht überbetonen, also lieber gar nicht erst nennen, schließlich hat jeder sein Päcklein zu tragen …
es gilt (ganz unpersönlich):], einen weltweiten Frieden anzustreben. [Hört, hört!] Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.« Sehr schön, Friede, Vielfalt (jawohl, auch der Regierungsformen, schmuck war Herr Lukaschenko in seinen besten Jahren und postsowjetischen Uniformen doch!), Umweltschutz, Europa, Gesundheit, das lässt sich hören.
Nur, was war nochmal das Ausgangsproblem? Ach ja, der unschöne Angriffskrieg, der »Bruch der Grundnorm des Völkerrechts«, gegen den man sich wehren muss. Nur halt ohne Waffen, jedenfalls ohne schwere, und überhaupt nicht zu viel und zu lange. Keinesfalls so viel, dass der Aggressor dadurch an der Durchsetzung
aller seiner Absichten gehindert wird. Wenn er es unbedingt haben will, müssen wir (naja,
die) ihm etwas abgeben, das ist doch nur fair. Denn sonst spielt er vielleicht verrückt, hat jedenfalls ein Motiv dazu, und wir wären schuld … Bis jetzt ist er ja eigentlich ein lieber Kerl, mit dem man sicher einen Kompromiss findet, nee, ist ja noch besser, mit dem die Ukrainer sicher einen Kompromiss finden, mit etwas gutem Willen … es muss ja nur die Regierung in Kiew – oder war’s die in Berlin? – entscheiden, dass ein paar Millionen Ukrainer sich in bettelarmen ›Volksrepubliken‹ terrorisieren lassen sollen … ach was, flüchten können sie ja auch, das kommt der Vielfalt in Europa nur zugute! Und wenn der Aggressor etwas von dem bekommt, was er sich durch den Angriffskrieg (pscht, wir wollen ihn doch nicht schon wieder provozieren), also mittels seiner Spezialoperation nehmen wollte, dann wird er sicher wieder brav, wir brauchen nicht aufzurüsten, beziehen wieder ganz viel billiges Gas von ihm (Klimawandel? Brückentechnologie!), machen gute Geschäfte (nur die bösen Rüstungskonzerne nicht, ätsch!) und freuen uns auf die Verhandlungen, wenn wir wieder in unserem Sandkasten mit Putinchik spielen dürfen. Mal sehen, wer dann mit Kompromiss-Schließen dran ist. Ene mene miste, es rappelt in der Kiste, ene mene meck und Estland ist weg. Oder so ähnlich.
Jetzt kommt der letzte Absatz des Briefes ungekürzt:
»Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend [!] zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung - und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.«
Beinahe, beinahe hätten sie explizit gesagt, dass halt die Ukraine diejenigen Kompromisse machen muss, die nötig sind, damit »unsere heutige (Wirtschafts)Macht« erhalten bleibt. Die Ukrainer haben doch nichts zu verlieren außer ihrem lumpigen Bisschen Selbstbestimmung. Wir aber …
Pfui, das ist schon wieder zynisch, den Autoren geht es bestimmt, Hand aufs Herz, nicht nur um ihre Ruhe, ihren Wohlstand und ihre Lieblingsprojekte (wirklich, darum geht es uns allen, geschenkt); sie wollen sich nicht nur in ihrem politischen Sandkasten beim Spiel mit den (Re-)Förmchen nicht stören lassen. Sie denken auch »in Anbetracht unserer historischen Verantwortung«. Die durfte wirklich nicht fehlen. Also: Die deutsche Geschichte lehrt ganz klar die Pflicht zum Kompromiss mit dem Aggressor. Jawohl. Weil dann die Wehrmacht vielleicht heute noch in der Ukraine … gewiss, Hitler hätte halt auch kompromissbereit sein müssen, aber Putin ist ja nicht Hitler … Nein, so kann das auch nicht gemeint sein, das ist ja noch zynischer.
Vielleicht soll gesagt sein, dass die Appeasement-Politik doch richtig war (obwohl wir alle in der Schule etwas anderes gelernt haben), wenn die Briten nicht den Fehler gemacht hätten, nach München 38 schließlich noch aufzurüsten? Das muss es sein! Die haben einfach die Nerven verloren, dadurch kam die fatale Rüstungsspirale in Gang, die ein Jahr später schon in den Weltkrieg geführt hat. Und selbst dann hätten die Polen ja noch einen Kompromiss schließen können, das hatten die Tschechen doch so schön vormachen dürfen (sollen, müssen) … Den ganzen langen Weltkrieg mit seinem schrecklichen Leid, am Schluss sogar für uns in Deutschland, hätten die Polen mit einer Portion universaler Vernunft teutonischer Geschmacksrichtung vermeiden können, aber sie mussten sich ja unbedingt wehren und die unverantwortlichen Briten haben sie auch noch bestärkt und sind sogar motu proprio Kriegspartei geworden … Die Geschichte darf sich nicht wiederholen! (Oder, wie der DGB übermorgen so treffsicher verlautbaren wird: Nie wieder Krieg!)
Jedes noch so schwierige welthistorische »Problem« hat eine »Lösung«, wenn man deutsche Intellektuelle ranlässt, die es drängt, ihrer schweren Verantwortung denkend selbst gerecht zu werden! ›Die Politik‹ sollte für den nächsten Spannungsfall allerdings eine Bundesbrechtütenreserve vorhalten. Starker Bedarf kann noch vor dem Einsatz von Strahlungswaffen entstehen.
1 Den Kapitalismus abzulehnen, jedenfalls eine gerechtere Wirtschaftsordnung zu suchen und anzustreben, scheint mir, um das klarzustellen, nicht nur allweil fesch zu sein, sondern richtig. Es kommt natürlich darauf an, was man darunter versteht … Davon, dass der Kapitalismus, den wir leider haben, verwerflich wäre, würde nicht alles, was kein Kapitalismus ist, richtig oder bloß weniger verwerflich. Aber selbst wenn man diesen Fehlschluss anbringen wollte, würde Putins Russland ebenso wenig in den Genuss einer vorteilhaften Wertung gelangen wie das China, in dem eine sich immer noch so nennende ›Kommunistische Partei‹, respektive deren Nomenklatura herrscht (Karl Marx wenigstens hat das Glück, von den vorderen Plätzen auf der offiziellen Liste der Väter jener Weisheitslehre, die angeblich diese Partei inspiriert, durch die Namen der großen Männer Mao, Deng und Xi verdrängt worden zu sein). Wesentliche kapitalistische Elemente der Gesellschaftsordnung, solche der übelsten Art, sind dort nicht zu übersehen (wenn man nicht beide Augen zumacht). 9.6.2022
In Mannheim geht in Kreisen des akademischen Proletariats ein Gespenst um, das Gespenst des Marxismus. Es scheint der Mottenkiste für ein Frühjahrssemester (oder länger) entkommen zu sein. Unter anderem haben sich Jochen B. (Insidern als ›Genosse Kant‹ oder ›Sister Merit‹ geläufig), Johannes F. (›Long John Fairly‹) und meine Wenigkeit (in der Redaktion der Schülerzeitung meines Gymnasiums war ich noch ›Chefideologe‹) ins Gruselkabinett begeben, um den zweiten Band des »Kapital« zu lesen. Jawohl, da hört man Heulen und Zähneklappern und die Ketten, die die Proletarier immer noch zu verlieren haben, rasseln! Auf dieser reading spree gibt es nur hartes Brot und Nüsse zu knacken. Eine besonders fiese ist die Arbeitswerttheorie …
Viele Leute (darunter der gewiegte Käptn Buddelschiff, der schon mal tüchtig Seemannsgarn spinnt, aber vor Gespenstern keine Angst hat) halten es nämlich prima vista für vollkommen unplausibel, dass der Wert (speziell der Tauschwert einer Ware) exklusiv von der Arbeit erzeugt sein soll, die nötig war, um das Gut, das getauscht wird, herzustellen oder zu beschaffen. Sie sagen, dass doch auch Dinge einen Wert haben, die gar nicht durch menschliche Arbeit entstanden sind, zumal dass Maschinen (Roboter) auch Wertvolles erzeugen können, dass der Wert eh etwas Subjektives ist (wie viel ist
mir das wert?), dass der Preis (von Wert zu reden hat halt keinen Sinn) durch Angebot und Nachfrage festgelegt wird und durch sonst nichts – und noch mancherlei, was ihnen verständlicher, sinnvoller und übrigens auch viel näherliegend klingt. Leute, denen die Arbeitswerttheorie irgendwann eingeleuchtet hat, finden das erstaunlich und irritierend. Können die Freunde der These vom Arbeitswert ökonomisch ge-, vorge- oder verbildeten Menschen wenigstens begreiflich machen, wie man dazu kommt? Sehen wir uns einen Modellfall an (weder Campingausflug noch Vereinsheim Mickey Mouse, eher ›Die Waltons in der Jungsteinzeit‹), in dem das schließlich wertbehaftete Ding wirklich nicht durch menschliche Arbeit hergestellt oder auch nur bereitgestellt ist. Ja, wie? Hat diese komische Theorie dann etwa immer noch einen Sinn?
Eine Familie A von Bauern (sagen wir in der Anfangszeit der Sesshaftigkeit und des Landbaus, wie man sich die so vorstellt) baut auf dem Land um ihre Hütte herum alles an, was sie selbst benötigt. Die Arbeitskraft aller arbeitsfähigen Familienmitglieder (der Mitglieder der Produktionsgenossenschaft Familie A) wird davon in einem Durchschnittsjahr vollständig beansprucht (in einem Jahr mit guter Ernte legt man Vorräte an …). Bislang haben sie alles benötigte Wasser aus einer nahen, aber außerhalb ihres bebauten Landes liegenden Quelle geschöpft.
An dieser Quelle lässt sich nun eine andere Familie B nieder, sperrt den Zugang zu dieser Quelle (es ist eine Karstlandschaft: das Quellbächlein fließt nur ein paar Dutzend Meter über ‚deren‘ Land und versickert wieder), ist aber bereit, die Nachbarn weiter Wasser schöpfen zu lassen, falls diese es gegen Produkte ihrer Landwirtschaft, sagen wir lagerfähige Hirse, eintauschen. – Gerechtigkeitstheoretisch und auch praktisch ist nun durchaus nicht klar, warum Familie A sich das gefallen lassen soll oder, anders gesagt, auf welcher Grundlage das beanspruchte Eigentum an der Quelle und dem Quellwasser stehen soll.
Nehmen wir aber einfach
an, es sei kein Monopol entstanden; deutlich weiter entfernt von der Hütte der As gebe es schon einen Bach, der den Wasserbedarf der Familie decken könnte. Sehen die As sich nun – ob aus Gründen der Gerechtigkeit (von wegen der Heiligkeit des Eigentums und so) oder der Machtverhältnisse – gezwungen oder veranlasst, den Anspruch der Bs auf das Quellwasser zu akzeptieren, wird man vorhersehen können, dass sie bereit sind, Wasser von den Bs durch Tausch zu erwerben.
Wunderbar, sagt der bürgerliche Ökonom, da sieht man es, das Wasser wird seinen Preis haben, der jetzt in den Verhandlungen zwischen A und B entsteht. B hat keine Arbeit in das Wasser oder die Quelle gesteckt, es gibt keinen natürlichen Preis dieses Wassers, aber B hat es halt und gibt es umsonst nicht her, dazu verspürt man seitens der Familie B keinen Anreiz. Man wird einfach sehen, wie viel Familie A das Wasser wert ist.
Allein, die As sind homines protooeconomici und überlegen (gemeinsam, denn errare humanum est, auch wenn John Boy anerkanntermaßen der Hellste ist), wie viel sie sinnvollerweise höchstens zahlen werden (wenn das riskante Verhalten von Raub, Diebstahl oder Täuschung aus moralischen und / oder Zweckmäßigkeitsüberlegungen nicht in Frage kommt). Und diese Überlegung wird so aussehen: Wir können das Wasser auch aus dem Bach holen, aber das ist mühsamer und kostet Zeit, Zeit, die wir nicht haben. Würden wir täglich Wasser vom Bach holen, könnten wir entweder weniger bzw. eine geringere Vielfalt von Ackerfrüchten anbauen oder wir hätten nicht genug Zeit übrig, die Hütte zu reparieren, Unkraut zu jäten etc., und würden in diesem Fall von der Substanz leben (aus der Krippe schallt es: „Das verbietet sich der Generationengerechtigkeit halber!“). Damit wir zu einer Quantität kommen, schätzen wir ab, wie viel wir von dem Gut, das die Bs von uns haben wollen, H-Hirse, bei Verwendung des Bachwassers weniger produzieren als bisher, da wir die nahe Quelle benutzt haben. Klar ist, wir geben den Nachbarn höchstens etwas weniger als dieses Differenzprodukt, also etwas weniger als die Differenzmenge, die wir bei Verwendung des Quellwassers verglichen mit Verwendung des Bachwassers ernten werden können.
Der Preis, den Familie B erzielen wird, hat also eine eindeutige obere Grenze in der Produktmenge, die in der Zeit produziert werden kann, die bei der Wasserversorgung aus der nahen Quelle zur Verfügung steht, bei der umständlichen Wasserbeschaffung aus dem entfernteren Bach aber nicht.
Die As sind, wie man sieht, für Neolithiker gar nicht blöd. Sie verabreden sich noch, von diesen Überlegungen den Nachbarn nichts zu erzählen und viel weniger zu bieten („Versuchen kann man’s“, sagt die Oma aus Erfahrung). Die Bs aber sagen sich, dass der gute Marktteilnehmer ein gut informierter Marktteilnehmer ist (oder ahnen so etwas jedenfalls), kennen aber die Produktion der As
noch nicht so genau, wissen folglich nicht, wie viel sie verlangen können, und haben deshalb die Kleine mit den guten Ohren zum Belauschen des Familienrats der As ins Gebüsch an deren Hütte geschickt. Nach diesem Gründungsakt der Wirtschaftsspionage sind sie mit den Deliberationen der As und dem quantitativen Resultat vertraut (sonst müssten sie halt ein paar Jahre beobachten). Und daher sind sie nicht bereit, beträchtlich von der Forderung nach der vollen Differenzmenge abzuweichen (gut, man darf die Nachbarn nicht zur Verzweiflung und nicht zur Weißglut bringen, sonst gehen sie aus Trotz zum Bach, einen kleinen Nachlass wird man gewähren müssen – dann haben alle etwas davon, könnte man sagen, wenn hernach beim Selbstgebrannten die Stimmung wieder in Ordnung gebracht werden soll).
Voilà, der Preis, der Tauschwert des Wassers und der dafür eingetauschten Hirse drückt sich in Arbeit aus, nicht in aufgewendeter, aber in ersparter bzw. ansonsten aufzuwendender. Und anders kann das auch nicht sein.
Schon wieder habe ich mich in eine Lehrveranstaltung der Universität Mannheim geschlichen (ok, ich bin eher gehumpelt), die von Christian Wendelborn geleitet wird, diesmal zusammen mit Jochen Bojanowski und Helge Rückert (geleitet, nicht geschlichen): »Der Analytische Marxismus und seine Kritiker«. Im ersten Teil des Blockseminars haben wir uns mit Texten von Gerald Allen Cohen – als (Haupt-)Vertreter des ›Analytical Marxism‹ – herumgeschlagen und mit der Schrift eines seiner Gegner. Ein gewisser Jason Brennan hat ein Büchlein mit dem Titel Why not Capitalism? (in Reaktion auf Cohens Essay Why not Socialism?) veröffentlicht, scheitert aber (absichtlich) an der Beantwortung dieser Frage. Obwohl (oder weil) Cohen sich in den gelesenen Texten nicht als Marxist erweist und – das sehen zwei der drei Seminarleiter auch so – sein Philosophiestil auch nicht der der analytischen Tradition ist, hat sich das Seminar so weit als spannend und lebhaft erwiesen. Die drei echten Studentinnen und der eine Student behaupten sich gut gegen drei Dozenten, einen Seniorenstudenten und (als Gast) einen ehemaligen Dozenten. Respekt!
Mein persönliches Interesse an der Veranstaltung ist nicht zuletzt ›to get my fair share of the views‹: Was denken mitteleuropäische Studenten und andere Leute, wenn sie (zum ersten Mal) mit diesem amerikanischen, moralphilosophischen Neo- (oder Pseudo-)Marxismus konfrontiert werden. Bei einem der Teilnehmer konnte ich das, zugegeben, vorhersehen, einmal, weil ich ihn schon lange kenne, auch aus eigenen Lehrveranstaltungen, und zum anderen, weil er Wirtschaftswissenschaften studiert hat. Ökonomen haben bekanntlich zu Marx ein Verhältnis wie Psychologen vom Fach zu Sigmund Freud. Umso besser, dann wird man von ihnen immer wieder an die ganz offensichtlichen Irrtümer dieser (weißen alten) Männer erinnert, nicht wahr?
Besagter gelehrte Ökonom sagte sozusagen im Rahmenprogramm des Seminars mit Überzeugung ungefähr Folgendes: ›Marx’ Werttheorie ist völlig falsch, im 19. Jahrhundert wusste man es halt nicht besser, Marx hat sie ja im Wesentlichen der Literatur seiner Zeit entnommen, was sollte er auch sonst machen, le pauvre Marx. Er hatte das Pech, der schon im Ansatz völlig falschen Werttheorie von Adam Smith (sonst, besonders sofern er den Markt lobt, ein guter Mann) zu folgen. Es gibt aber keine natürlichen Preise, der Preis (und Wert kann nichts anderes besagen) kommt beim Tausch zustande, nicht in der Produktion. Das ist Phlogiston-Theorie.‹ (Schön gesagt!)¹
Als Jochen Bojanowski im Seminar kurz ein paar Kernpunkte von Marx’ Lehre, darunter die Mehrwerttheorie, skizzierte, hat er als ausgewiesener Experte protestiert; Jochen hat daraufhin konziliant (er hat Respekt vor der Ökonomie als Wissenschaft) erwähnt, dass die (bürgerlichen) Ökonomen den Gewinn des Kapitalisten ja als
Risikoprämie erklären (und in einem Aufwasch rechtfertigen). Man sah ein nachdrückliches Nicken.
Schön, nehmen wir an, es sei eine Risikoprämie. Was könnte der Ausdruck besagen? Er hört sich nach Versicherung an, also: Die Prämie soll den Kapitalisten vor dem Risiko sichern, sein Kapital zu verlieren, wenn er es investiert, also wagt. (In der Konkurrenzgesellschaft, in der seine Firma auf dem freien Markt agiert, kann jedes Unternehmen scheitern, ganz ohne Verschulden des Unternehmers.) Demnach wäre die Prämie so hoch, dass der Kapitalist sich auf einem gedachten Versicherungsmarkt gegen das Risiko des Kapitalverlustes versichern könnte. Das würde wiederum bedeuten, dass – vernachlässigt man die Versicherung und ihre Kosten –, die Kapitalisten insgesamt im Wirtschaftsgeschehen ihre Kapitalien unversehrt, unvermindert erhalten, nicht weniger, aber auch nicht mehr, die Versicherung kann ja nur ausgleichen. Sähe es so nicht ziemlich fair (um das große Wort ›gerecht‹ zu vermeiden) aus? Wenn das Unternehmen pleite macht, gründet der Kapitalist ein neues und die Arbeiter verwerten ihre (gegen Arbeits- und Berufsunfähigkeit hoffentlich versicherte) Arbeitskraft anderweitig, über die relativen Gehaltshöhen können wir uns ja immer noch streiten. (So stehen die Dinge natürlich nicht, aber dazu sogleich.)
Vielleicht sagt ein bürgerlicher Ökonom nun: Naja, schon, aber das ist ja noch kein
Anreiz, das Kapital überhaupt einzusetzen, dann kann er es ja auch unter der Matratze lassen, weiter für einen anderen arbeiten und sich um Wachstum und Gemeinwohl nicht scheren. O wie schade um die Gerechtigkeit, aber so ist der Mensch (vielleicht)! – Hm, betrachten wir die idyllischen Marktverhältnisse, die gemeinhin angenommen werden (und die es näherungsweise auch mal gibt), wenn das Wesen des Kapitalismus in rosigen Farben gemalt wird, bereichert um die ›Kapitallebensversicherung‹: Mit dem Kapital, das er gegen das Risiko zu scheitern versichert, kann der Kapitalist ein Unternehmen gründen und seine Idee verwirklichen, die abstrakt darin besteht, seine Kunden mit bestimmten Gütern zu versorgen (man beachte hier den inhärenten Gemeinsinn!), die sie brauchen (haben wollen) und die sie von anderen jedenfalls nicht günstiger erwerben können, für die sie also bereit sind, den erwarteten Preis zu zahlen. Es ist seine Idee (nehmen wir an), es ist sein Kapital, er ist der Chef (einen Chef muss es geben, nehmen wir an). Er schafft sich also einen Arbeitsplatz und zahlt sich in seinem Unternehmen ein (völlig normales) Geschäftsführergehalt, der Gewinn deckt die Versicherungsprämie. Gar kein
so schlechter Anreiz, würden die meisten Menschen sagen, denn das Kapital kann er ja nicht mehr verlieren.
Allein, die Verhältnisse, sie sind nicht so, sie sind viel schöner (für den Kapitalisten). Die Gesamtsumme des Kapitals bleibt sich nicht gleich, sie vermehrt sich (meistens und in the long run). Das macht, der Kapitalist muss, wenn sein Kapital nur groß genug ist (und dann erst nennt man ihn einen Kapitalisten), gar nicht selbst arbeiten – das Geschäftsführergehalt verliert seinen Reiz, er kann einen Geschäftsführer einstellen und vom Gewinn leben. Im Allgemeinen und im typischen Fall verliert er sein Kapital nicht (und muss es nicht gegen dieses Risiko versichern, sondern investiert es einfach breit gestreut), kann (vorsichtig gesagt) von den Erträgen leben und das Kapital vermehrt sich immer noch.
So viel zum Ausdruck »Risikoprämie« (das sind jetzt hochironische Anführungszeichen).
Aber wir wollen nicht um Worte streiten, wer wird denn gleich neidisch werden, bloß weil der Kapitalist ein bisschen mehr erhält als einen Risikoausgleich. Wir sind doch alle großzügig, sollten es wenigstens sein und uns am Glück des Nebenmenschen freuen, der eine gute Idee (oder geerbt) hatte. Aber, naja, ein wenig merkwürdig ist es ja schon, dass der Kapitalist qua talis nun leben kann, ohne zu arbeiten, während die meisten anderen arbeiten müssen² (wenngleich sich heutzutage, dem Kapitalismus sei dank, dabei ja niemand mehr den Rücken krumm schuftet oder die Finger schmutzig macht, oder?) und netto dabei gar kein Risiko hat, sein Kapital wieder zu verlieren, vielleicht – doch irgendwie horribile dictu – wieder arbeiten zu müssen. (Vom langen Nichtstun ist er am Ende faul und arbeitsunfähig geworden wie ein Hartz-IV-Empfänger und fällt dann wie dieser der Gemeinschaft zur Last – halt, das ist er ja vorher auch schon … ich verwirre mich.)
Ein Trost wenigstens, dass die Mehrwerttheorie nicht stimmt, dass der Kapitalist also, egal wie man es betrachtet, den Arbeitern nichts wegnimmt, gell. Zwar, der Kapitalist lebt nicht vom Geld allein, sondern muss das gegen Güter eintauschen. Güter, die andere mit ihrer Arbeit produziert haben (wenn sie schon nicht den Wert produziert haben, dann doch unbestreitbar die Güter, sofern sie nicht auf Bäumen wachsen, die in des Kapitalisten Garten stehen – und dieser keinen Gärtner hat.) Der große Haufen der Gesamtgüter wird also verteilt: Der größte Teil (wirklich) geht an die vielen, vielen Arbeiter (die übrigens zu viel essen und zum Übergewicht neigen und auch noch Zigaretten und Bier brauchen) und ein kleiner, wenngleich nicht im engsten Sinn bescheidener Teil geht an die Kapitalisten (die ja auch Geschmack haben und die besseren Anzüge tragen und überhaupt Handwerk und Künste ermutigen). Den kaufen die Kapitalisten mit dem Teil der Kapitalerträge, den sie
nicht brauchen, um sich gegen Kapitalverlust abzusichern (sie sind ja nicht dämlich). Und so leben sie alle Tage.
Man könnte also sagen, dass sie von dem leben, was die Arbeiter über das hinaus produzieren, was die Arbeiter selbst verbrauchen und was zur Produktion notwendig ist. (Man braucht keine Videoüberwachung, um sich zu vergewissern, dass es Kapitalisten gibt, man nannte die mal recht hübsch Couponschneider, die wirklich nur konsumieren, nichts produzieren, zur Produktion rein gar nichts beitragen außer ihrem feuerfesten Kapital, oder meinetwegen sogar bloß, dass es die geben kann.) Was man
nicht sagen kann (darf) ist, dass die Arbeiter die Werte schaffen, die sie benötigen (dafür haben sie ihren Lohn erhalten) und die zur Reproduktion des ganzen Apparats benötigt werden, und
darüber hinaus die Werte, die die Kapitalisten als solche ohne Gegenleistung erhalten. Das ist nämlich falsch, weil in der Produktion kein Wert entsteht.³ In Tausch und Handel aber gibt es kein Problem: Der Kapitalist zahlt ja.⁴ Pünktlich und bar / mit goldener Kreditkarte. QED
1 Sogar
weil Marx selbst sich über die Theorien, die die Entstehung des Profits in der Warenzirkulation vermuten, mit den Worten lustig macht: »…, da alle Argumente dieser Art, der Sache nach, unfehlbar auf das seinerzeit vielberühmte negative Gewicht des Phlogiston hinauslaufen.« (Das Kapital, Dritter Band, Berlin: Dietz 1964 [MEW 25], S. 49)
2 Robert Nozick belehrt uns, dass sie dazu aber nicht
von den Kapitalisten gezwungen werden. Sei’s drum.
3 Letzteres ist vorläufig nicht meine Meinung (wie der Leser hoffentlich gemerkt hat). Nachdem ich das geschrieben hatte, habe ich erfahren, dass G. A. Cohen im 11. Kapitel von
History, Labour, and Freedom (Oxford 1988) dafür argumentiert, die Arbeitswerttheorie komplett fallenzulassen und die Behauptung, dass die lohnabhängigen Arbeiter ausgebeutet werden, nur über die Aneignung eines Teils ihrer
Produkte (nicht eines imaginären Mehrwerts) durch die Kapitaleigner zu begründen. Cohen muss auch nicht der Erste gewesen sein, der so etwas gesagt hat, aber er war deutlich vor mir dran. – Die erwähnten Mitstreiter und ich haben uns vorgenommen, Cohens Argumentation genauer zu studieren, sobald wir dazu Zeit finden. (13.6.20)
4 Wenn er nicht gerade ein notorischer Bankrotteur ist wie der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten.
Mein Elternhaus liegt etwa zwölfeinhalb Kilometer vom Hanauer Heumarkt entfernt in einer bayerischen Nachbarstadt. Hanau war die Residenzstadt eines reichsunmittelbaren kleinen Territoriums, die Landgrafen holten Ende des 16. Jahrhunderts calvinistische Flüchtlinge, kenntnisreiche, in modernen Produktionsmethoden bewanderte Handwerker, aus Frankreich und den habsburgischen Niederlanden in die Stadt, es entstand eine Neustadt als barocke Planstadt nach den Vorstellungen der Einwanderer. Das Gewerbe und die Stadt insgesamt blühten auf. Über zweihundert Jahre lang war die Neustadt eine selbständige Gemeinde, viel Integrationsdruck gab es offensichtlich nicht, es ging auch so. Ab 1604 gab es sogar wieder eine jüdische Gemeinde in Hanau, auch die Juden hatte der Landesherr angesiedelt (so steht es in den guten Wikipedia-Artikeln zum Ort und seiner Geschichte).
Bis zum Krieg war nicht nur die interessante Struktur der Doppelstadt innerhalb der Festungsanlagen, sondern auch reichlich alte Bausubstanz erhalten. Nach dem Krieg ist das, was die Bombardements übrig gelassen hatten (achtzig Prozent der Stadt waren zerstört – meine Mutter hat als Kind den nächtlichen Feuerschein gesehen, als Hanau brannte), zum allergrößten Teil abgerissen worden. (Schloss Philippsruhe, eine hübsche spätbarocke Anlage am Main, hat es überstanden, der zugehörige Stadtteil Kesselstadt immerhin besser als das Zentrum.) Eine jüdische Gemeinde gab es nicht mehr, die letzten Juden, die nicht mit einem ›Arier‹¹ verheiratet waren, waren 1942 in die Vernichtungslager deportiert worden. Die tausenden ›Fremdarbeiter‹, die die Nazis in die Stadt gezwungen hatten, waren wieder verschwunden. Hanau war nun alles andere als eine schöne Stadt, aber immer noch günstig gelegen, neuerdings auch strategisch, so dass sie zum größten amerikanischen Stützpunkt in Deutschland wurde. Man sah sogar außerhalb der großen Kasernenanlagen oft amerikanische Soldaten, auch viele schwarze, die einzigen schwarzen Menschen, die ich in meiner Kindheit zu Gesicht bekommen habe.
Hanau war vor und nach dem Krieg nicht nur eine Garnisonsstadt, sondern auch ein bedeutender Industriestandort. Aus meinem Heimatort und der Umgebung fuhren viele Arbeiter mit Linien- und Werksbussen zu ihren Schichten in die Hanauer Fabriken. Seit den sechziger Jahren waren immer mehr neue Einwanderer darunter, viele aus der Türkei, auch viele Kurden. Nach der Religion hat damals niemand gefragt, schon gar nicht der Arbeitgeber. Es kam bloß darauf an, dass Staub, Hitze, Lärm, Gestank, Monotonie und Nachtarbeit mindestens vierzig Stunden in der Woche ertragen werden konnten, jahrein, jahraus. Zähe Leute wurden gebraucht, konnten jedenfalls gebraucht werden, ganz ohne Spezialkenntnisse und besondere Fertigkeiten, viele davon. Ein eigenes hübsches neues Stadtviertel mit allem zeitgemäßen Komfort nur für die Immigranten gab’s diesmal nicht – die ›Gastarbeiter‹ sollten ja nicht bleiben und hatten einzeln keine Verhandlungsmasse –, Neubausiedlungen schon.
Hanau ist eigentlich nichts besonderes, eher eine ziemlich typische (west-)deutsche Stadt, viel hat sie auch mit größeren Städten gemein. Was in Hanau passiert, kann auch in Gießen geschehen, in Kassel, in Heilbronn oder, sagen wir, Mannheim.
Wahnsinnige gibt es auch überall, ob mit oder ohne Jagdschein. Zum Beispiel solche, die von einer ›Umvolkung‹ schwadronieren, damit sogar Wählerstimmen gewinnen wollen (und gewinnen). Mal zeigen diese Leute auf Bürgerkriegsflüchtlinge, mal auf Afrikaner, die ihr Glück in Europa versuchen wollen. Mitgemeint sind immer die ›Fremden‹, die schon lange da sind. »Der große Austausch geht weiter«, die von Politikern angeblich geplante Ersetzung der Eingeborenen, naja, der Nachfahren der Leute, die das Land nach dem Krieg wiederaufgebaut haben, bevor die ›Gastarbeiter gekommen‹ sind, der arischen Bevölkerung halt, durch Einwanderer, also durch solche, die diesen Leuten nicht passen.
Es reicht diesen Leuten nicht zu konstatieren, eine solche Ersetzung finde statt: Da wäre der Einwand, dass die ›Volksdeutschen‹ doch vorläufig nicht verschwinden, zu naheliegend; nein, es muss sich um einen schurkischen Plan handeln, der noch vereitelt werden kann, wenn man die Schurken – die kann man sich im Einzelnen noch aussuchen, Merkel gehört sicher dazu – hinter Gitter bringt, so der Traum eines gewissen Herrn Klos (zu ihm sogleich), oder aufhängt, so der Pegida-Vorschlag. (Beim letzten Mal hieß es, ›Köpfe werden rollen‹, aber Fallbeil und Schafott scheinen aus der Mode gekommen zu sein.)
Das meint unter anderen der demokratisch gewählte Landtagsabgeordnete für den Wahlbezirk Mannheim Nord (in dem ich wohne), Rüdiger Klos (man kann es auf seiner Homepage nachlesen, verlinken werde ich die nicht). »Jeder weiß, so kann und darf es nicht weitergehen. Wir sind nicht willens – weil dies zum Zusammenbruch unserer Nation in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht führen würde –, geschweige denn fähig [naja, ›wir‹ wollen ja schon nicht, da kommts aufs Können nicht mehr an], das Armutsproblem auf diesem Planeten zu lösen. [›Wir‹ haben nämlich besseres zu tun:] Deutschland muss seine Identität bewahren.« (›Wir‹ sind die, denen das Land zwar nicht gehört, die aber wenigstens qua Herkunft, die ›uns‹ keiner nehmen kann – wo hab’ ich denn den Ariernachweis vom SA-Großonkel –, einen Anspruch an einem Anteil an seinen Reichtümern geltend machen, wenn ›wir‹ sonst schon keinen haben, ›wir‹ armen Tröpfe.) Klos ruft nicht zum bewaffneten Widerstand auf, das wäre als Volksverhetzung strafbar. Er will auch wirklich nicht, dass seine Wähler erst die Waffe und dann die Sache des teutschen Volkes selbst in die Hand nehmen und die Gäste in der nächsten Shisha-Bar erschießen. Er will (wieder-)gewählt werden, allen Ernstes. Er glaubt nur oder will glauben machen (ich glaube, er glaubt es), dass die Lage ernst ist, dass der »Zusammenbruch« droht, dass es »so« nicht weitergehen kann und darf, er sagt’s ja, es muss etwas geschehen. Die Identität, die es zu wahren gilt, hat mit Türken, Kurden und anderen ›Südländern‹ nichts zu tun, this goes without saying. Dass angesichts der großen Gefahr nicht alle seine Wähler das Vertrauen haben, unser Landtagsabgeordneter und seine Fraktion würden es im Parlament schon richten, darf man vermuten. Aber
so kann es doch nicht weitergehen …
Herr Klos, Herr Höcke und ihre Mitkeifer, egal ob sie zum Flügel, zur Keule oder zum Bürzel gehören wollen, teilen den rassistischen Dachschaden des Mörders von Hanau.² Der Wähler sollte sich an den Kopf greifen. Diese Leute sind umso gefährlicher, je gefährlicher man sie werden lässt, sonst nicht. Zwar, der Mann in Hanau war nicht nur an Rassismus erkrankt und hat sich schließlich selbst umgebracht, auch nicht als erster von denen. Besser aber man entwaffnet sie vorher, der Schaden kann sonst ausgedehnt sein.
Übrigens: Haben wir eigentlich einen zweiten³ Verfassungszusatz? Oder welchen besonders geschützten Grundwert pflegen Sportschützen in ihren gewiss teils altdeutsch folkloristisch-gemütlichen Vereinen (es gibt neuerdings sogar welche mit Schützenkönigen mit ›Migrationshintergrund‹, zugegeben)? Natürlich kann man niemandem verbieten, auf Karton- oder Strohscheiben zu schießen. Das geht auch mit Pfeil und Bogen und für muskelschwache Leute mit dem Luftgewehr. Auch mit solchem Gerät muss man vorsichtig umgehen, wie mit Messer, Scher’ und Licht, aber man kann damit nicht in einer Stunde neun Leute umbringen. Man kann die rassistisch Verrückten am einfachsten entwaffnen, indem man alle entwaffnet. Der Bürger braucht kein Schießgewehr.
1 So wenig wie ›Rasse‹ (bezogen auf Menschen) hat der Pseudobegriff ›arisch‹ einen Sinn. Ich gehe eigentlich davon aus, dass den Besuchern dieser Seite dergleichen völlig klar ist. Aber wenn man diese Sprache öffentlich zitiert, sollte man vorsichtig sein. Man kann sich natürlich auch über den Rassismus lustig machen kann … es ist allerdings nicht leicht, sich so auszudrücken, dass
jeder merkt, dass es Unfug ist (vgl. Walther Darré, »Das Schwein als Kriterium für nordische Völker und Semiten«, München: Lehmann 1933).
2 »Auf die Frage, ob es einen Zusammenhang etwa von Äußerungen aus der AfD-Bundestagsfraktion mit der Tat in Hanau gebe, sagte Gauland vor Journalisten: ›Das hat bestimmt nichts mit Bundestagsreden zu tun.‹« (https://www.tagesschau.de/newsticker/hanau-ermittlungen-101.html#Steinmeier-in-Hanau-eingetroffen, 20.2.2020, 17:24 Uhr) Achso, na denn muss ick irjendwat falsch verstanden hamn, entschuldijen Se vielmals.
3 Ursprünglich hatte ich irrtümlich »fünften« geschrieben, das ist aber der mit dem Zeugnisverweigerungsrecht (und anderen wichtigen Rechten), der in der McCarthy-Zeit auch eine phantasievolle Auslegung erfahren hat und bei den üblichen »Deals« mit dem Staatsanwalt reihenweise falsche Geständnisse nicht verhindert. Der
zweite Zusatz lautet: »A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.« Das wird heute einerseits als naturrechtlicher Grundsatz aufgefasst (schon die Autoren der englischen Bill of Rights hätten besser auf Hobbes hören sollen; je stärker und häufiger Richter sich auf angebliches Naturrecht stützen, desto mehr machen sie Politik und
schöpfen Verfassungsrecht …), andererseits ist die Bindung an eine ›wohl regulierte Miliz‹ so ziemlich verdampft, ebenso wie jede Beschränkung auf Waffen, die für eine Miliz geeignet wären. [Wenn man nur wollte, könnte man auch so klug sein, aus einer Bestimmung, die
dem Volk erlaubt, Waffen zu besitzen und zu tragen, fürs
Individuum so viel lieber nicht abzuleiten. Wenn man wollte, könnte man den Verfassungsartikel zwanglos so verstehen, dass das massenhafte Sterben an der amerikanischen Waffenpest verhütet würde. Man muss den Autoren der (in vielen Teilen schlecht gealterten) Verfassung und der Bill of Rights der Vereinigten Staaten nicht unterstellen, dass sie die 300 Millionen
modernen Schusswaffen (die halt viel tödlicher sind als die Vorderlader mit Steinschlössern von anno 1791) in den Händen und Schränken der Amerikaner mit allen Konsequenzen wollten und billigten. Aber wenn man guten Willen und Verstand hätte, könnte man gleich das unsinnige ›Grundrecht‹, dessen Gewährung auf falschen Annahmen beruht, streichen. Wenn …] Wie dem auch sei, mit einer solchen antiquierten Verfassungsbestimmung müssen wir uns nicht herumschlagen.
Seit langer Zeit zum ersten Mal besuche ich in diesem Herbstsemester wieder ein Seminar als (inoffizieller) Student oder gemeiner Seminarteilnehmer, nämlich Christian Wendelborns »Klassische und neuere Theorien der Entfremdung: Marx, Jaeggi, Rosa« (Universität Mannheim). Diesen Montag hat sich in der zweiten Sitzung schon eine intensive Diskussion über den Entfremdungsbegriff entwickelt, ausgehend vom SEP-Artikel »alienation« von David Leopold. Zwei Punkte von Leopolds Versuch, einen möglichst schlanken Kernbegriff von Entfremdung auszuweisen, haben sich dabei als schwierig erwiesen: Erstens haben wir uns gefragt, ob seine Quasi-Definition der »basic idea of alienation« nicht redundant ist. Zweitens hat Christian vorgeführt, dass Leopolds Unterscheidung von »subjective« und »objective alienation« so nicht haltbar ist. Das wiederum hat Konsequenzen für seine Darstellung von Typen philosophischer Entfremdungstheorien, namentlich für die Behauptung, Hegel vertrete die Auffassung, in seiner Gegenwart gebe es ausschließlich »subjektive Entfremdung«.
In der Redundanzfrage war am Ende der Sitzung scheinbar der Konsens erreicht, dass Leopolds Basisformulierung nicht redundant sei (s. dazu unten die erste Notiz).
Für seine These zu Hegel hat Leopold keine direkten Belegstellen angegeben, und ich habe mich gefragt, auf welche Aussagen er eigentlich zielt (s. dazu unten die zweite Notiz).
Um diesen Dingen halbwegs auf den Grund zu gehen, habe ich recht umfangreiche Notizen angefertigt – die möglicherweise anderen Seminarteilnehmern oder sonstwem nützlich sind. Also präsentiere ich sie hier, in all ihrer seminarsituations- und funktionsbedingten Vorläufigkeit. Sie sind auf der Seite »Unprofessionelles« am Besten aufgehoben, weil es zwar um Fachlich-Philosophisches im engsten Sinne geht, ich aber nicht versucht habe, den Standards für eine Veröffentlichung auch nur nahezukommen. Speziell die Hegel-Notiz ist ganz gewiss nicht das letzte Wort in dieser Sache, vermutlich auch noch nicht von meiner Seite. – But now without further ado …
Erste Notiz:
Ist Leopolds Basisdefinition von Entfremdung insofern redundant, als man das Wort ‚problematisch‘ darin streichen könnte?
Leopold drückt die „basic idea of alienation“ in
Leopold 2018 1.1 so aus: „the problematic separation of a subject and object that properly belong together“. Ich werde mich im Folgenden auf eine deutsche Entsprechung beziehen, die ich wie folgt formuliere: „die problematische Trennung eines Subjekts von einem Objekt, die eigentlich zusammengehören“.¹ [Anmerkungen direkt hinter der »Notiz«]
Es wurde zur Diskussion gestellt, dass jede Trennung eines Subjekts von einem Objekt, die etwas betrifft, was eigentlich zusammengehört, qua talis problematisch ist. Demnach wäre das Wort ‚problematisch‘ in der Definition überflüssig (oder hätte allenfalls eine explikative, betonende Funktion). – Das würde nicht ausschließen, dass es Erscheinungsformen von Entfremdung gibt, die über die Trennung des Zusammengehörigen hinaus (aus weiteren Gründen) problematisch sind, aber das spielt hier keine Rolle.
Leopolds Text legt mindestens nahe, dass er selbst den Ausdruck ‚problematisch‘ für nicht unbedingt erforderlich hält. Das Beispiel für eine nicht-problematische Trennung, die also kein Fall von Entfremdung ist (das der spanischen Architektin, die gegenüber den verfassungsrechtlichen Problemen der Beziehungen von Niue und Neuseeland gleichgültig ist), ist eines, in dem nichts getrennt ist, was zusammengehört (die Architektin muss oder soll sich für diese Probleme nicht interessieren).
Weiter schreibt er: „The suggestion here is that to be appropriately problematic—[…]—the separations have to obtain between a subject and object that properly belong together […].“ Das Problematische der Trennung geht demnach mit der Trennung von eigentlich Zusammengehörigem einher. Wenn Leopold dann ‚präzisiert‘, „that the candidate separations have to frustrate or conflict with the proper harmony or connectedness between that subject and object“, erläutert er damit, wenigstens prima facie, nur ‚separation of what properly belongs together‘. In einer weiteren Formulierung scheint er dann aber mehr als nur diese Trennung zu verlangen: „Alienation obtains when a separation between a subject and object that properly belong together, frustrates or conflicts with that baseline connectedness or harmony.“ Dieser Formulierung nach erscheint es möglich, dass die Trennung des eigentlich Zusammengehörigen allein noch nicht mit der zugrundeliegenden Verbindung oder Harmonie konfligiert. Allerdings muss man das nur aussprechen, um zu sehen, dass es nur die Formulierung ist (‚when a separation … frustrates …‘), die diese Interpretation für einen Moment suggerieren könnte. Sachlich ist es kaum denkbar, dass eine Trennung des Zusammengehörigen nicht mit der Verbindung des Zusammengehörigen konfligiert. So spricht Leopold auch im Folgenden: „To say that they properly belong together is to suggest that the harmonious or connected relation between the subject and object is rational, natural, or good.“ –
Zwischenfazit 1: Leopold verwendet ‚problematisch‘ in seiner Basisdefinition nur, um zu betonen, dass Entfremdung die Trennung von
eigentlich Zusammengehörigem voraussetzt. Das Wort markiert
für ihn kein zusätzliches Merkmal von Entfremdung.
Das dürfte sich auch zwanglos für einen kompetenten Sprecher des Deutschen ergeben, dem man die Frage vorlegt, ob eine Trennung von einem Subjekt und einem Objekt, die eigentlich zusammengehören, problematisch ist. Trotz der Schwierigkeit, die Bedeutung von ‚problematisch‘ hinreichend klar zu erfassen, wird er zu der Antwort neigen: „Irgendwie wird diese Trennung für das Subjekt schon problematisch sein, wenn es mit dem Objekt eigentlich zusammengehört.“
Christian hat mich (20.9.) darauf aufmerksam gemacht, dass damit die Interpretationsfrage offensichtlich nicht entschieden ist: Entdeckt der Interpret eine gewisse Redundanz, müsste er nach dem Prinzip der hermeneutischen Billigkeit nach einer Lesart suchen, die diesen Fehler nicht aufweist. Er wird also mindestens vermuten, dass Leopold mit dem in gewisser Weise zusätzlichen „problematisch“ nicht eine weitere, andere Problematik gemeint haben müsste. Nur im Lichte von Leopolds oben zitierten weiteren Aussagen wird er zu dem Schluss kommen, dass Leopold „problematisch“ wahrscheinlich bloß zur Betonung verwendet. – Jedenfalls kann immer noch gefragt werden, ob man die Formulierung, wie sie ist, nicht besser als nicht-redundant verstehen sollte.
Im Seminar war aber von Teilnehmern² anhand von Beispielen dargelegt worden, dass es Trennungen von Subjekt und Objekt, die eigentlich zusammengehören gebe, die aber nicht problematisch sind und die insofern und daher auch nicht als Entfremdung bezeichnet werden sollten.
Ich vermute, dass einerseits in den besten Beispielen zu viele Kandidaten für Entfremdung im Spiel sind (die dann leicht konfundiert werden bzw. sich semantisch gegenseitig beeinflussen) und dass andererseits die Tatsache, dass es gerechtfertigte Entfremdung gibt, hier noch übersehen wurde. Das schon in der Sitzung entwickelte und diskutierte Beispiel des missbrauchten Kindes³ ist aber auch geeignet zu zeigen, dass es sich in der Tat so verhält. Fixieren wir es so:
Ein Vater missbraucht⁴ anhaltend sein kleines, von ihm noch abhängiges Kind. Die Beziehungen des Kindes zur übrigen Familie, zu seiner Mutter, seinen Geschwistern, den Großeltern usw., sind, soweit erkennbar, intakt. Das Jugendamt erfährt von dem Missbrauch, nimmt das Kind in Obhut und entfernt es aus der Familie, um den Missbrauch zu beenden.
Es wurde nun darauf hingewiesen, dass die Trennung des Kindes von der Familie zwar als eine Trennung von etwas, das zusammengehört, beschrieben werden kann (es handelt sich eben nicht nur um die Trennung vom Vater, die nur noch mit Mühe so charakterisiert werden könnte), dass sie aber eindeutig zum Wohl des Kindes beiträgt und insofern nicht problematisch sei. Genau deshalb solle man auch nicht von Entfremdung (des Kindes von der Familie) sprechen. Entfremdung liege eben nur vor, wenn die Trennung noch anderweitig problematisch ist.
Diese Interpretation scheint mir nicht die beste zu sein.
Soweit das Kind eine intakte, auf typische Weise enge und gute Beziehung zu mehreren Familienmitgliedern hat, ist die Trennung des Kindes von der Familie offenbar problematisch: Sie beraubt das Kind dieser förderlichen, stützenden usw. Interaktionen. Das Jugendamt muss entsprechend abwägen, ob die Trennung gerechtfertigt ist. Letzteres mag zwar in eindeutigen Fällen ganz klar sein, man kann aber leicht das Gedankenexperiment eines (stark) gesunkenen weiteren Missbrauchsrisikos machen (o.ä.), um zu erkennen, dass eine Abwägung als solche erforderlich ist.⁵
Von hier aus kann man auch noch den darin steckenden Fall der Trennung vom Vater in mehreren Schichten betrachten: Mindestens ein Teilnehmer hat darauf aufmerksam gemacht, dass doch schon eine nicht-räumliche, nämlich emotionale Trennung des Kindes vom Vater vorliegen müsse. Auch hier kann dann gefragt werden, ob diese mutmaßliche gefühlsmäßige Abkapselung des Kindes eine Trennung von Zusammengehörigem, ob sie problematisch und ob sie ein Fall von Entfremdung ist. Mir scheint eine Fallunterscheidung erforderlich zu sein: Sprechen wir von der konkreten Beziehung des Kindes zu diesem Mann, der sein Vater ist, oder sprechen wir von der Beziehung, die ein Kind wie dieses zu seinem Vater haben sollte? Im ersten Fall gehört hier nichts mehr zusammen und schon daher kann die Abkapselung des Kindes keine Entfremdung sein (sondern stellt eine Leistung des Kindes dar). Im anderen Fall gehören Vater und Kind durchaus zusammen, wir stellen darauf ab, dass mit der Abkapselung ein Verzicht auf väterliche Zuneigung einhergeht, auf die das Kind Anspruch hätte … beschreiben den Fall also als Trennung von Zusammengehörigem und können dann sofort von Entfremdung sprechen (die eben wegen des angesprochenen Verlusts für das Kind problematisch ist).⁶ –
Zwischenfazit 2: Auch das ‚Beispiel des missbrauchten Kindes‘ erlaubt zwanglos eine Interpretation, wonach dabei eine (im fraglichen Sinn) problematische Trennung von Subjekt und Objekt vorliegt, weil und nur weil Subjekt und Objekt getrennt werden, obwohl sie eigentlich zusammengehören. Und eben dadurch ist das ein Fall von Entfremdung gemäß Leopolds ‚Grundidee‘ (obgleich ein gerechtfertigter).
Wir haben im weiteren Verlauf der Sitzung gesehen, dass es Entfremdungen gibt, die ‚all things considered‘ richtig sind, in Kauf genommen werden sollten usw., obwohl sie pro tanto (qua Entfremdung) ungut sind (um zur Abwechslung nicht ‚problematisch‘ zu sagen). Ich denke, dass es dem Sprachgebrauch entspricht (und dass eine Beschreibung dieses Sprachgebrauchs ausreicht, um einen Kern eines sozialphilosophisch anwendbaren Entfremdungsbegriffs herauszuschälen), wenn man immer dann Entfremdung konstatiert, wenn eine Trennung von einem Subjekt und einem Objekt, die eigentlich zusammengehören, vorliegt (zusammen mit anderen evtl. erforderlichen Merkmalen, die nicht den evaluativen Aspekt der Zuschreibung betreffen), und wenn man ‚alles in allem doch akzeptable‘ Fälle von Entfremdung einräumt, die das Resultat von Abwägungen mit
anderen Wünschbarkeiten (wie Gerechtigkeit, körperliche Unversehrtheit, noch schlimmere Entfremdung …) sind.
1 An dieser Definition ist, vor allem wenn man sie als Definition in einem technischen Sinn verstehen wollte (was Leopold nicht vorschlägt), vielleicht noch mehr problematisch als das ‚problematisch‘. Das thematisiere ich nicht. Vielleicht ist das originale ‚properly‘ schon tautologisch oder zu vieldeutig usw. Das sollte für die Diskussion um die in Rede stehende Tautologie keine Rolle spielen.
(12.7.20:) Nebenbei gesagt: Das Wort ‚problematisch‘ scheint mir in journalistischen und philosophischen Texten viel zu häufig vorzukommen. Seine Bedeutung ist oft schwer auszumachen. Viele Autoren bezeichnen etwas als problematisch, um es als moralisch anrüchig, fragwürdig, eigentlich mehr als fragwürdig (denn was heißt das nun wieder?), praktisch schon irgendwie verwerflich zu markieren – und diese Wertung nicht begründen zu müssen. Diese Praxis ist … schlecht, ich möchte sie als die Übung kennzeichnen, mit Schmutz zu werfen, von dem man hofft, dass er hängen bleibt, ohne sich die Finger schmutzig machen zu wollen. Man sollte dieser Praxis nicht folgen und den Ausdruck sparsam, im Zweifel lieber nicht verwenden. (Es lohnt sich vielleicht, wenn ich mich darüber einmal ausführlicher auslasse.)
2 An der Diskussion haben sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer beteiligt; ich habe mir nicht gemerkt, wer genau was gesagt hat, kann insofern nicht jeweils das korrekte Genus verwenden und gebrauche bloß der Kürze halber das männliche der grammatischen Grundform.
3 Ohnehin gewiss kein typisches Beispiel für E. als sozialphilosophisches Phänomen, aber ein gut gewähltes Beispiel, um Eigenheiten von Leopolds weiter Basisdefinition zu beleuchten.
4 Obwohl es für das semantische Funktionieren des Beispiels keine Rolle spielt, hilft es wahrscheinlich, wenn man hier nicht (ausschließlich) an krasse und schreckliche Formen von Missbrauch denkt, sondern eine große Bandbreite vor Augen hat.
5 Man sieht auch leicht, dass das Jugendamt die Entfernung des Kindes aus der Familie gegen die Entfernung des Vaters aus selbiger abwägen müsste, eben aus dem Motiv heraus, dem Kind die Familie zu erhalten.
6 Ich erhebe natürlich keinen Anspruch darauf, Kindesmissbrauch psychologisch usw. angemessen erfasst zu haben. (Ein Nachteil des Beispiels ist es, dass man dazu neigt, diesen Anspruch an jemanden, der es intensiv verwendet, zu stellen.) Es geht nur um semantisch mögliche Unterscheidungen. Welcher konkretere Entfremdungsbegriff dann in einer speziellen (familientherapeutischen, sozialpsychologischen, pädiatrischen, …) Theorie zweckmäßig wäre, lässt sich von hier aus noch nicht entscheiden.
Zweite Notiz: Hegel über Entfremdung in den angegebenen Paragraphen der »Rechtsphilosophie«
Leopold verweist auf drei Paragraphen der
Grundlinien der Philosophie des Rechts, nämlich § 4A, § 187A, and § 258A, nicht eigentlich, um zu behaupten, dass sich dort wesentliche Aussagen Hegels zu dessen Entfremdungstheorie fänden, sondern um Belege für den Gebrauch des Ausdrucks „zu Hause“ anzuführen. Im Kontext (s. 4.1) sagt er damit auch, dass Hegel so auf ‚subjektive‘ E.,¹ wie Leopold sie versteht, referiere. Da er aber für seine philosophiehistorisch gravierende Behauptung, Hegel erkenne in der ‚modernen‘ Gesellschaft (seiner Zeit) keine objektive Entfremdung, keine anderen Hegel-Stellen anführt (er beruft sich nur auf
Hardimon 1994), gleichwohl den Ausdruck ‚zu-Hause-Sein‘ aufgreift (die Individuen könnten, objektiv betrachtet, in Staat und Gesellschaft zu Hause sein – so stellt Leopold Hegels Auffassung dar), ist man aufgefordert, sich aus den angegebenen Stellen zusammenzureimen, was Hegel meinen könnte oder was bei Hegel Leopold meinen könnte.
Da die angegebenen Passagen („A“ bezeichnet „Anmerkungen“ zu den drei Paragraphen der
Rechtsphilosophie) ziemlich lang sind, muss man zunächst Stellen heraussuchen, die dieses zu-Hause-Sein überhaupt thematisieren. Ich habe folgende Passagen gefunden, isoliere sie und gehe bloß von diesen aus.
Einleitung,
§ 4, Zusatz²: „Ich ist in der Welt zu Hause, wenn es sie kennt, noch mehr, wenn es sie begriffen hat.“ (Hegel 1986a, S. 47)
Dritter Teil: Die Sittlichkeit, Zweiter Abschnitt: Die bürgerliche Gesellschaft,
§ 187 : „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates
Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben. Da dieser durch das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als
Mittel erscheint, so kann er von ihnen nur erreicht werden, insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem
Gliede der Kette dieses
Zusammenhangs machen.“ Anmerkung: „Es hängt mit den Vorstellungen von der
Unschuld des Naturzustandes, von Sinneneinfalt ungebildeter Völker einerseits und andererseits mit dem Sinne, der die Bedürfnisse, deren Befriedigung, die Genüsse und Bequemlichkeiten des partikularen Lebens usf. als
absolute Zwecke betrachtet, zusammen, wenn die
Bildung dort als etwas nur
Äußerliches, dem Verderben Angehöriges, hier als bloßes
Mittel für jene Zwecke betrachtet wird; die eine wie die andere Ansicht zeigt die Unbekanntschaft mit der Natur des Geistes und dem Zwecke der Vernunft. Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit, in den Naturbedürfnissen und in dem Zusammenhange dieser äußern Notwendigkeit sich diese Schranke und Endlichkeit gibt und eben damit, daß
er sich in sie hineinbildet, sie überwindet und darin sein
objektives Dasein gewinnt. Der Vernunftzweck ist deswegen weder jene natürliche Sitteneinfalt noch in der Entwicklung der Besonderheit die Genüsse als solche, die durch die Bildung erlangt werden, sondern daß die
Natureinfalt, d.i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Roheit des Wissens und Willens, d.i. die Unmittelbarkeit und Einzelheit, in die der Geist versenkt ist, weggearbeitet werde und zunächst diese seine Äußerlichkeit die Vernünftigkeit,
der sie fähig ist, erhalte, nämlich die
Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit. Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser
Äußerlichkeit als solcher
einheimisch und
bei sich.“ (S. 344 – die letzten Formulierungen sind offensichtlich die von Leopold gemeinten)
„Die Befreiung ist im Subjekt die
harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. […]“ (S. 345; es geht in der Anmerkung insgesamt um die Rolle der Bildung)
––, dritter Abschnitt: Der Staat,
§ 258, Anmerkung: „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist
das Interesse der Einzelnen als solcher letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. […] Die
Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.“ (S. 399)
In der langen Anmerkung kommt „zu Hause“ nur ganz zum Schluss vor, und zwar in Bemerkungen, die sich auf die konsequente Inkonsequenz der
Restauration der Staatswissenschaft von Carl Ludwig von Haller (6 Bde., Winterthur 1816–1834) beziehen: „[…], so besteht die Konsequenz bei solchem Inhalt eben in der völligen Inkonsequenz einer Gedankenlosigkeit, die sich ohne Rücksicht fortlaufen läßt und sich in dem Gegenteil dessen, was sie soeben gebilligt, ebensogut zu Hause findet.“ (S. 402) Das hat also mit einem sozialphilosophischen Entfremdungsphänomen denkbar wenig zu tun.³
Die Struktur der angeblich subjektiven Entfremdung bei Hegel (wenigstens derjenigen, die Leopold anzusprechen scheint) ist also tatsächlich so: Der Bürger A fühlt sich dem Staat entfremdet, sagen wir, weil er meint, dass die Besteuerung auf seine berechtigten individuellen Bedürfnisse gar keine Rücksicht nimmt, dass der Staat seine und anderer Bürger Freiheitsspielraum durch Besteuerung (und andere engstirnige Vorschriften) so weit einschränkt, dass er ihm jede Selbstverwirklichung unmöglich macht usw. Damit sei die Harmonie der staatlichen und der privaten Zwecke, die doch sein soll, zerstört. Diese Verhältnisse seien mehr als problematisch. – So weit behauptet A, indem er reklamiert, entfremdet zu sein, übrigens eine objektive Entfremdung.
Hegel könnte nun auf der bloßen Beispielebene
ungefähr entgegnen:⁴ A verwechselt unter anderem den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft; konkreter sieht er nicht, auf welche Weise in der verfassungsmäßigen Ordnung sein Handlungsspielraum als Bürger gewahrt bleibt, ja durch die staatliche Ordnung erst ermöglicht wird. Er sieht nicht, dass seine Standesvertretung der Besteuerung nach ausführlicher Diskussion zugestimmt hat, dass eine freie Presse ihm selbst (als Leserbriefschreiber) mit seinen Vorstellungen Gehör verschafft. Er sieht am wenigsten, dass die Zwecke, die der Staat mit Hilfe der Steuermittel verfolgt (Landesverteidigung, innere Sicherheit, Infrastrukturmaßnahmen, öffentlicher Unterricht, Forschungsförderung usw.) ja gerade seinen wohlerwogenen eigenen Interessen entsprechen. Er berücksichtigt schließlich offenbar überhaupt nicht – obwohl es darauf letztlich ankommt –, dass er als vernünftiges Wesen die Pflicht hat, ein allgemeines Leben zu führen; merkwürdigerweise ist ihm der Staat scheinbar nicht Bedürfnis.
Diese Entfremdung ist bloß subjektiv, insofern es dem Bürger A und seinesgleichen (u.a.) an der nötigen Bildung fehlt; A muss hart
an sich arbeiten, um diese Entfremdung zu überwinden. – Heißt das, es gebe nach Hegel in dem gedachten Zustand nur subjektive Entfremdung? Offensichtlich nicht: Die tatsächliche Entfremdung As vom Staat ist objektiv, da sein Mangel an Bildung und der daraus resultierende Mangel an Erkenntnis ganz objektiv sind, tatsächlich vorliegen (auch wenn
diese ‚Trennungen‘ gerade
nicht von A bemerkt werden). A ist nicht in der Harmonie mit seinem Staat, in der er (nicht nur nach seinem Gefühl, sondern nach dem richtigen Begriff des Staates) sein sollte und – weil dieser Staat vernünftig eingerichtet ist – auch sein könnte. Es ist nur so, dass die Gründe für
diese (nicht die von A behauptete) Entfremdung im Subjekt, in objektiven Defiziten des Subjekts liegen.
Fazit: Man kann cum grano salis sagen, dass in einer entwickelten Gesellschaft (wie Hegel sie beschreibt), hauptsächlich ‚subjektiveH ‘ E. vorkommt oder vorkommen könnte. Das ist aber nicht ‚subjektiveL E.‘ in Leopolds Sinn: Es ist nicht einfach diejenige E., die bestimmte Subjekte
erleben (und der darüber hinaus keine objektiveL E. entspräche). Die subjektiveH E. ist in Leopolds Begriffen durchaus objektiv: Sie besteht tatsächlich aus einer erkennbaren (und von Hegel diagnostizierten) Trennung einiger Individuen von der angemessenen, auf der Grundlage von Bildung zugänglichen Erkenntnis ihres Staates (und ihren Folgen). – Die Aufhebung der Entfremdung besteht dabei in der (nachgeholten) Bildung des Individuums; mit der Beseitigung des Erkenntnismangels verschwindet diese(!) E., Bürger A wird mit seinem Staat versöhnt.⁵
Historischer Zusatz: Soweit ging es nur darum, Leopolds Andeutungen zur „alienation“ bei Hegel nachzugehen, das von ihm (und vielleicht Hardimon) gemeinte zu verstehen, ausgehend von der Behauptung, es gebe bei Hegel nur subjektiveL E. Gemeinhin wird Hegels Entfremdungstheorie (mindestens auch) auf der Grundlage von Hegels Begriff der ‚Entäußerung‘ diskutiert, wie er prominent in der
Phänomenologie des Geistes fungiert.⁶ Auch Marx entwickelt seinen (frühen) Entfremdungsbegriff in den
Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 in Auseinandersetzung mit dieser Entäußerungstheorie. In gewisser Weise ist es Marx, der Hegel vorwirft, nur eine ‚subjektive‘ E. zu kennen, in dem Sinne jedenfalls, dass es der Geist ist, der letztlich aus der Entäußerung zu sich selbst zurückkehren muss – in Gestalt der Philosophie.⁷ Auf dieser Abstraktionsstufe hat das aber mit einer E., die (nur) in mentalen Zuständen von Individuen besteht, nichts zu tun. Für den Seminarkontext wird Hegels Entäußerungsbegriff vielleicht irgendwann insofern interessant, als er verstehen hilft, warum es nicht nur, all things considered, akzeptable, sondern sogar (nicht nur ethisch-moralisch) notwendige Entfremdung geben könnte.
1 Dort, wo es erforderlich ist, werde ich die Verwendung des Wortes „subjektiv“ wie von Leopold definiert, durch „subjektiv
L “ markieren und davon eine von mir Hegel unterstellte Gebrauchsweise als „subjektiv
H “ unterscheiden.
2 In der eigentlichen „Anmerkung“ zum Paragraphen finde ich nichts Einschlägiges, dort geht es um den Begriff der Willensfreiheit. Die mündlichen „Zusätze“ zu den Paragraphen müssten philologisch anders behandelt werden als die „Anmerkungen“, aber davon kann man hier wirklich abstrahieren.
3 Im Zusatz zu diesem Paragraphen steht die berühmte Stelle: „[…] es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“.
4 Ich entnehme einfach den wenigen zitierten Stellen Material zu einer gedachten Entgegnung; dabei konfundiere ich selbst in einer Weise, die Hegel nicht billigen würde, die Ebenen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates. Auf diese Weise kann ich dennoch erläutern, warum Hegel bei Leuten, die sich dem Staat in der geschilderten Weise entfremdet fühlen würden, zwar von subjektiver E., aber nicht von bloß subjektiver E. in Leopolds Sinn sprechen könnte.
5 Leopold sagt, vielleicht Hardimon referierend: „For Hegel […] this [bringing society closer to a state without any alienation] requires only attitudinal change; that is, that we come to recognise that the existing world is already objectively ‘a home’, and in this way ‘reconcile’ ourselves to that world, overcoming pure subjective alienation in the process.“ – Obiges ist ausdrücklich keine Rekonstruktion von Hegels tatsächlichem Entfremdungsverständnis, sondern bloß eine Zurückweisung der von Leopold angedeuteten Hegel-Interpretation in diesem Punkt, die das Missverständnis gleichzeitig in seiner Genese verständlich machen soll.
6 Hegel verwendet in der
Phänomenologie durchaus auch den Ausdruck „Entfremdung“; zentral ist er in VI.B: „Der entfremdete Geist. Die Bildung“ (Hegel 1986b, S. 359-441).
7 Dazu etwa
Lukács 1973, Bd. I, S. 849.
Literatur
Nicht aus aktuellem Anlass: Deutsche Politiker sagen heutzutage den Medien, wenn sie sich so schnell wie möglich zu einem katastrophalen Ereignis im Wir-Territorium äußern, praktisch immer: »Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen«. Da hiesige Medien ihre Überparteilichkeit dadurch zu bewähren pflegen, dass sie Politiker mehrerer Parteien zu Wort kommen lassen, liest man den Satz in Berichten über Anschläge, Explosionen, Großunfälle unter Umständen sogar mehrfach.
Das war vor ein paar Jahrzehnten nicht (so) üblich, wenn meine Erinnerung nicht trügt. Auch damals pflegten US-amerikanische Politiker bei solchen Anlässen aber schon zu sagen: »My prayers are with …«. Das hatte und hat einerseits den unschönen Beigeschmack der Bigotterie – man zweifelte gelegentlich, ob der betreffende Politiker denn wirklich so oft zu beten pflegt (vielleicht auch, ob Politiker mit sehr viel Gottvertrauen für wichtige Staatsämter die richtigen sind).
Zwar meinte ich immer, in Europa würden diesen Brauch ›wir alle‹ ein bisschen widerlich finden, aber wie so oft fingen Leute an, das transatlantische Ritual nachzuahmen. Nur die Religion muss man hier drüben doch aus dem Spiel lassen; allzu viele Leute hätten geradezu etwas dagegen, dass man für sie betet.
Nun hat die englisch-amerikanische Variante gegenüber der Eindeutschung einen semantischen Vorteil: Man kann für das Seelenheil oder die Genesung von Opfern beten, ohne sie persönlich kennen zu müssen, denn dem Herrn sind sie wohlbekannt, er liebt sie alle und kennt ihre Bedrängnisse.
Mit den Gedanken bei wildfremden Leuten zu sein, ist schwieriger. Die Politiker wollen damit ja nicht sagen, dass sie nur irgendwie an die Opfer denken, so wie das jeder tut, der die entsprechenden Meldungen liest. Sie wollen Anteilnahme ausdrücken, sie wollen mitfühlend und warmherzig erscheinen und erfüllt von tätiger Nächstenliebe.
Wenn man meint, mit Gebeten etwas für Menschen tun zu können, oder wenn Beten allgemein als angemessenes Handlungssurrogat gilt, steht einem dafür die amerikanische Phrase zur Verfügung. Wenn man die nicht benutzen kann und sagen muss, dass man bloß an jemanden denkt, drängt sich dem Leser oder Hörer noch leichter der Verdacht auf, dass der Politiker vielleicht Besseres zu tun hätte, auch Hilfreicheres, Nützlicheres, dass er doch keine Sentimentalität zur Schau stellen muss, die man ihm oder ihr je nach Typ eh nicht zutraut, und dass er schließlich augenscheinlich gerade nicht an die Opfer denkt, sondern daran, wie er mit seinen Bemerkungen dazu ›in den Medien‹ dasteht. Bestenfalls nimmt das Publikum es hin, weil ›man das halt so sagt‹. Außerhalb dieser speziellen Mediensituation und außerhalb von Politikerkreisen sagt man es aber nicht, noch nicht jedenfalls.
Freilich zeugte es nicht von Rohheit, von Abgehobenheit, von Unkenntnis gegenüber ›den Sorgen und Ängsten der Menschen‹, wenn man sich nicht bei jeder Katastrophe dieser Phrase bediente, sondern von Einsicht, Dezenz und gutem Geschmack.
Ich ärgere mich anhaltend. Ich möchte die Situation, über die ich mich ärgere, ändern; vermutlich ist es nicht damit getan, meinem Ärger Luft zu machen, aber trotzdem:
Ethics of Entfristung
An der Universität von … trug sich einst zu, dass ein Mittelbauer entdeckte, die Verwaltungsknechte des Landesfürsten hätten ihn 57 Tage länger befristet beschäftigt, als der Souverän das zuließ. Er zeigte dies fristgerecht dem Gericht an, das der Landesfürst für solche Fälle gesetzt hatte, und kaum war das Verfahren eröffnet, gab die Universität zu, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und erkannte an, dass dieser Mittelbauer sich in einen Freibauern verwandelt hatte, will sagen, solange im Dienst des Landes bleiben wird, bis er stirbt oder das Rentenalter erreicht. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lehrt und forscht er noch heute. So weit, so schön.
Nun dient aber oberwähnter Mittelbauer nicht nur dem Land und der Universität, sondern auch – was kann schöner sein – einer edlen Wissenschaft. Das Schicksal dieser wie anderer Wissenschaften ist wiederum auf etwas trübe Weise verschlungen in das ihrer Fachvertreter; als Fachvertreter fühlen sich hierzulande und in erster Linie die Lehrstuhlinhaber. Diese wiederum meinen qua Amt, manchmal steht’s auch in der Lehrstuhldenomination, sie verstünden etwas von Moral. Praktisch äußert sich das bei Gelegenheit so, dass sie ganz schnell moralische Vorwürfe machen.
Der Lehrstuhlinhaber als solcher fühlt starke Verantwortung für das Fach, weil er sich (gelegentlich bis zur Konvergenz) mit diesem identifiziert. Er empfindet dieses (genau dieses) Verantwortungsbewusstsein als Vollkommenheit, es ist richtiges Bewusstsein, Mangel daran ist ein Defekt. Seine Verantwortung für das Fach nimmt er typischerweise wahr, indem er a) bedeutende Texte veröffentlicht (ersatzweise viele) und b) indem er dafür sorgt, dass nur Berufene berufen werden. Die Dinge sind nun so weit richtig geordnet, dass er für b) – leider gemeinsam mit anderen, aber immerhin mit anderen Lehrstuhlinhabern – wirklich die Verantwortung trägt, will sagen, entscheiden kann, wer Stellen erhält, wer der Wissenschaft dienen darf, sei es als Hiwi, als Zu-, pardon, Mitarbeiter oder gar als Kollege. Der Lehrstuhlinhaber sieht sich (weniger schlicht, mehr ergreifend) als Mitglied einer Aristokratie. Gegen Aristokratien gibt es bekanntlich einiges zu sagen, aber auch allerhand zu ihren Gunsten.
Natürlich ist es bloß Aristokratie im Terrarium, auf die Etats, die Stellenzahl, die rechtliche Ausgestaltung, die Laufzeiten etc. haben die Professoren ja nur marginalen Einfluss – immerhin so viel freilich, dass das Resultat von Berufungs- und Bleibeverhandlung ihre Selbstwahrnehmung in einem ansonsten äußerst anerkennungsarmen Biotop zu stabilisieren geeignet ist.
Die Berufenen auszuerwählen ist freilich ein schwierig Ding: Die Qualität der Arbeiten der Kandidaten wird typischerweise innerhalb der Aristokratie recht unterschiedlich beurteilt; wollte man die Tendenzen im geschichtlichen Verlauf in zynischer, also der Weihe des Gegenstands ganz unangemessener Weise beschreiben, würde man wohl von Moden sprechen: Ein paar Jahrzehnte lang ist die ›analytische Philosophie‹ eine amerikanische Naivität, anschließend ist das Philosophieren in diesem Stil das einzig senkrechte, ähm, rationale. Wenigstens kann man die Arbeiten des Kandidaten meist ziemlich objektiv einer Richtung zuordnen, dazu muss man sich nur die Literaturverzeichnisse ansehen. Aber dann geht der Streit halt erst richtig los.
Wie gut, dass es noch andere, selbstverständlich ebenfalls rational ausweisbare Kriterien gibt: Wer sich als berufen (aber noch nicht auserwählt) erweisen will, muss charakterliche Mindestanforderungen erfüllen, das ist in der Philosophie so ähnlich wie in Hollywood, die Philosophie ist hierzulande aber noch stärker eine Männerwelt, so dass bislang nicht das gesamte Appetenzverhalten des Kandidaten durchleuchtet wird – aber schweifen wir nicht ab: Der Kandidat muss vielmehr nur bereit sein, selbst Verantwortung für das Fach zu tragen, sich mit dem Fach (s.o.) identifizieren, die richtigen Prioritäten setzen. Er muss natürlich viel veröffentlichen, abgehakt, selbstverständlich. Leider nicht ebenso selbstverständlich scheint es zu sein, dass er persönliche Interessen hintanzustellen fähig sein muss. Es zeugt eben von einem schockierenden Mangel an Identifikation mit dem Fach (s.o.), wenn man auf anderem Wege als dem der Kooption auf eine Stelle zu gelangen sucht, um so mehr auf eine Dauerstelle. Überdies offenbart sich dabei ein Mangel an logischem Vermögen auf Seiten des Usurpanten: Von echter Dauer kann ja nur die Position des Auserwählten sein, dessen Berufung geprüft und bewährt ist.
Es ist wohl nötig, an dieser Stelle jenes äußerlich ähnliche Verhalten in Vergleich zu ziehen, das man bei einigen Auserwählten beobachtet, die einen bestimmten Ruf, beantragte Drittmittel, eine Verschiebung der Pensio…, pardon, Emeritierung nicht erhalten, die dann nämlich gern klagen oder wenigstens nach der Policey rufen. Das ist etwas anderes. Bei jenen Versagungen sind und waren nämlich regelmäßig fachfremde Erwägungen im Spiel, bureaukratische Schikanen, persönliche Animositäten, ja, man muss es sagen, der Neid fachlich Gescheiterter. Die aufopferungsvolle Beschreitung des Rechtswegs – sie hält ja von der Forschung ab – ist dann verdienstvoll, ist Wahrnehmung der Verantwortung für das Fach (s. o.).
Anders beim Mittelbauer auf Zeit, der sich einklagt: Er blockiert regelmäßig eine Qualifikationsstelle, nimmt mehreren anderen die Chance (dereinst auserwählt zu werden), ja schadet sich selbst, weil er seine Berufbarkeit (ein heikel Ding fürwahr) zerstört.
Es spielt so weit keine Rolle, dass er nach der Rechtslage nichts anderes getan hat, als seinen Vertrag zu erfüllen, und das darauf beruhende Angestelltenverhältnis sich nach Überschreiten einer Frist, die die Verwaltung berechnet, automatisch in ein dauerhaftes verwandelt, was bloß deshalb ein Gericht feststellen muss, weil es die Verwaltungen auch wider besseres Wissen zu leugnen pflegen.
Denn er könnte ja auf die Klage verzichten. Die moralischen Ansprüche im Fach sind halt hohe, denen ein Kandidat durch pünktliche Befolgung sämtlicher Rechtspflichten noch längst nicht Genüge tut. Dadurch, dass er sich einklagt, erregt er den Verdacht, es genau darauf angelegt zu haben. Und das wiederum kann ja nur bedeuten, dass er an sich denkt und nicht an das Fach.
Spätestens jetzt werden Außenstehende sich ein wenig wundern. Mancher wird sich sagen: »Ist es nicht völlig normal und überhaupt nicht verwerflich, auch an die eigene zeitliche Wohlfahrt zu denken? Zumal, wie man sagen hört, die Aussichten, in diesem Fach auf dem vorgesehenen Wege berufen zu werden, mit denen in einer Lotterie zu vergleichen sein sollen. Zumal man Leute kennt, die Mitte 40 plötzlich mit Habilitation und allem drum und dran, leider auch mit Familie, auf der Straße stehen. Und außer Philosophie gar nichts können.«
Falsch gedacht! Zwar, wenn jeder so denken würde, dann wäre vielleicht – bis der Gesetzgeber den Zustand beendet – ein nicht unerheblicher Teil der Mittelbaustellen von Lebenszeitangestellten ›blockiert‹, will sagen, die vielfältigen nicht-wissenschaftlichen Arbeiten, die da typischerweise anfallen, würden von Leuten erledigt, die gelernt hätten, sie effektiv zu erledigen, und weniger junge Menschen hätten die ›Chance‹, sich trotz solcher Aufgaben auf solchen Stellen zum Erwerb eines Lotterieloses zu qualifizieren.
Darum geht es aber nicht. Überhaupt ist der ganze Vergleich mit einer Lotterie zynisch. Es geht darum, dass die wahrhaft Berufenen auserwählt werden. Zum Nutzen und Frommen der Philosophie (und damit letztlich der Menschheit). Das können aber nur die berufenen Fachvertreter tun. Unglückliche formalgesetzliche Regelungen verhindern, dass die Lehrstuhlinhaber ihrer Verantwortung gegenüber dem Fach (s. o.) gerecht werden. Das muss der Kandidat einsehen, sonst disqualifiziert er sich selbst.
So ist das.
Und weil das so ist, müssen das auch die anderen Mittelbauer so sehen. Sonst zweifelt man stark an ihrer fachlichen (oder war es die charakterliche?) Eignung.
Weil die Welt andererseits aber nicht ideal beschaffen ist (vom Müssen kann man zwar auf das Können schließen, aber nicht aufs Sosein), pflegen sich alle Beteiligten nach einer Weile wieder einzukriegen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und moralische Animositäten zu vergessen (einige um sich wieder ganz auf Hahnenkämpfe konzentrieren zu können). Wie schnell das geht, scheint irgendwie von der Frequenz gemeinsamer abendlicher Aktivitäten mit Alkoholkonsum an dem betreffenden Institut abzuhängen – und vom Anteil an Ganznüchternen. – In diesem Sinne: Wohlsein!
Die richtige Verwendung von »gelten als«
Inspektor Saito fragt einen Wachtmeister, was er über die Umstände weiß, in denen eine junge Ausländerin in einer Straße zwischen alten Tempeln ermordet wurde. Sie hatte in einem dieser Tempel regelmäßig an den Meditationsübungen abends von sieben bis neun teilgenommen. Der Wachtmeister berichtet weiter: „Davis-san ging immer allein. Die Entfernung zum Haupttor ist nur kurz, und das Tempelgelände gilt als sicher.“ (S. 10) Dem Polizisten kommt es darauf an, deutlich zu machen, dass der Ort ganz allgemein, von allen nicht genauer Unterrichteten, für sicher gehalten wurde. Durch den Gebrauch der Wendung ist es überflüssig, explizit zu machen, wer dieser Meinung ist. Es schwingt mit, dass die Auffassung falsch, zu undifferenziert, übertrieben, veraltet etc. sein könnte. Der Oberwachtmeister ergänzt später: „Es gibt hier Straßenräuber, das stimmt. Das Tempelgelände ist nicht mehr sicher. Das war es einmal, und Davis-san glaubte, es sei noch so.“ (S. 11) – Leser-san, ziehen Sie Ihre Schlüsse!
Janwillem van de Wetering:
Inspektor Saitos kleine Erleuchtung, dt. von Hubert Deymann, 33. – 39. Tausend, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1989 [dt. EA 1986]
Chatten
Ohne je große Begeisterung für diese Art des Gedankenaustauschs entwickelt zu haben, habe ich in den letzten Jahren (fast sind es Jahrzehnte: im IRC hat das noch im vergangenen Jahrhundert angefangen) auf mehreren Plattformen eine ganze Menge Text an Leute aus vieler Herren Länder geschickt und von ihnen empfangen. Irgendwo auf dem Globus findet sich ja zu jeder (lokalen) Tages- und Nachtzeit jemand, mit dem man irgendwelche Interessen oder Vorlieben teilt und mit dem man, gerade weil man ihn vermutlich nie treffen wird, zwanglos ins Gespräch kommt. Als Freizeitgestaltung rangiert das so etwa auf dem Niveau eines Fernsehabends, würde ich sagen, immerhin rostet dadurch das eigene Basic English nicht ein. Für die Linguisten sind Chats sicher eine faszinierende neue Quelle für Sprachverwendungen, die der gesprochenen Sprache näher stehen als traditionelle Formen der Schriftlichkeit. Vielleicht findet man dereinst heraus, dass der durchschnittliche Chat große Ähnlichkeiten mit dem durchschnittlichen Bargespräch in einer Großstadt (in einem Land, in dem Bars auch dazu da sind, dass man sich mit Fremden unterhält) unter Fremden hat … Oder auch nicht.
Mir scheint aber nun, seitdem Smartphones allgemein in Gebrauch gekommen sind, schon wieder eine recht gravierende Veränderung im Chatverhalten der meisten Leute eingetreten zu sein: Man hat den Chat jetzt immer dabei und braucht ihn eigentlich gar nicht zu beenden und wieder aufzunehmen. Dafür ist man natürlich keineswegs auf einen Chat konzentriert: Man geht gleichzeitig allen möglichen Alltagsverrichtungen nach (das war beim Chatten von jeher so) und wird vielfältig durch Dringenderes abgelenkt: Durch den Verkehr, durch Nachrichten auf anderen Kanälen, Anrufe, zur Neige gehende Akkus usw. Aber der Chat läuft nebenher immer weiter … man bekommt neue Nachrichten von ein und derselben Person nach Minuten, Stunden, Tagen und kann sich nun spontan mehr oder weniger schlecht an den Stand des Gesprächs erinnern. Hier steckt die Neuerung: Anstatt eine völlige Verzettelung des Gedankenaustauschs zu vermeiden, nimmt man sie als Normalität hin. Was sich genau dadurch an Inhalt und Verlauf der Kommunikation ändert, ist schwer dingfest zu machen: Mir scheint, es kommt zu faden und prinzipiell endlosen Wiederholungen, man hat es schwer, sich vom gleich anfangs festgestellten punktuellen gegenseitigen Interesse loszumachen oder von dort aus neues Terrain zu bestellen. Es führt einfach nicht eins zum anderen.
Nun ist man natürlich nicht in einer kafkaesken Situation gefangen: Stattdessen schläft der Austausch irgendwie ein, ohne dass man bewusst und absichtlich Abschied genommen oder auch nur ein Ende festgestellt hätte. Nach Monaten kann man dann praktisch wieder von vorne anfangen, ermuntert von der vagen Erinnerung an eine Begegnung im Wortraum, die vielleicht wirklich einmal vielversprechend war.
Neue Kommunikationsformen nehmen einem die Mühen des Kennenlernens nicht ab. Und die Tücken dieser Formen muss man beim gegenwärtigen Tempo der Neuerungen auch noch ständig neu in Erfahrung bringen.
Nachtrag zu Geschmacksurteilen
In einer kurzen Diskussion über meine potenzielle Kritik an Berninis Plastik (31.8.) hat sich wieder einmal gezeigt, dass man in ästhetischen Fragen kaum umständlich genug sein kann, wenn es um die Klärung der Begriffe geht, die mit Wertungen zu tun haben. Ich will hier natürlich keinen Vorschlag zur Definition von ›Geschmack‹ machen und auch den Begriffsklärungen keine neue hinzufügen, sondern nur darauf reflektieren, wie ich den Ausdruck dann, wenn ich halbwegs sorgfältig rede, gebrauchen möchte: Es stimmt mit dem alten Spruch, dass man über Geschmack nicht streiten könne, überein, wenn man von einem rein persönlichen Geschmack spricht, dessen Urteile man anderen überhaupt nicht zum Nachvollzug anbieten will. Man kann bestimmte Kunstwerke anderen vorziehen, weil sie einen Reiz besitzen, für den es nur biographische Gründe gibt, weil sie angenehme Assoziationen auslösen, von denen man nicht annimmt, dass sie bei anderen auch ausgelöst werden. Der eine mag Pferdebilder, weil er Pferde mag, der andere hat eine Schwäche für einen gewissen Popsong, den er in seiner Jugend unter höchst angenehmen Umständen gehört hat, ein dritter schaut sich gerne Horrorfilme an und kann sich auch nicht so ganz erklären, warum er sich gerne gruselt. Ein ästhetisch halbwegs aufgeklärter Mensch wird sich nicht wundern, wenn selbst seine Freunde diesen seinen Geschmack nicht teilen, er wird nicht vermuten, dass der künstlerische Wert eines Kunstwerks davon irgendwie betroffen ist; das einzige ästhetische Problem mit dieser Art von Geschmack liegt darin, dass wir uns kaum je sicher sein können, dass unser Gesamturteil über ein Werk, das nicht nur privat gültig sein soll, von solchen ›grob sinnlichen‹ Anhaftungen frei ist.
Am anderen Ende der Skala steht unser Einverständnis mit den feststehenden Wertungen des Kunstkanons: Wenn wir aus selbst gewonnener Überzeugung anerkennen, dass Beethovens Klaviersonate op. 106 (die sog. Hammerklavier-Sonate) große Musik ist, Rembrandts »Nachtwache« ein bedeutendes Gemälde und Sophokles' »Antigone« ein zeitlos bewegendes Drama, dann zeigen wir damit eigentlich bloß, dass wir gelernt haben, wie man im Bereich dessen, was in unserem Kulturkreis ›Kunst‹ heißt, überhaupt urteilt. Es besteht zwar ein Spielraum in der Rangordnung auch der kanonischen Werke und über die Zugehörigkeit von fast jedem konkreten Werk zum Kanon der jeweiligen Gattung mag Streit möglich sein, aber wer mit den Werken Bachs, Beethovens, Verdis, Debussys, Bartoks, Brittens, … Lachenmanns insgesamt nichts anfangen kann, der wird halt keine Ahnung von Musik haben (und nicht einen ungewöhnlichen Geschmack). Man kann sich des Urteils über ›klassische Musik‹ enthalten, weil man nur Rap hört (und dort zu diskussionswürdigen Unterscheidungen fähig sein mag), aber man kann nicht ernsthaft Jay Z über Mozart und sämtliche Komponisten der Wiener Klassik stellen. (Diese Behauptungen haben wahrscheinlich Implikationen für den Kunstbegriff, denen man nachgehen müsste, aber das will ich im Augenblick nicht tun.)
Stattdessen will ich deutlich machen, dass es meines Erachtens (mindestens) eine dritte Ebene bei den ästhetischen Urteilen gibt (und darin ganz sicher einige verschiedene Arten), nämliche solche, bei denen Gründe angeführt werden könnten für den Vorzug, den man etwa einem Genre, einem bestimmten Stil oder eben dem Werk eines Künstlers vor anderen einräumt. Auf diesem weiten Feld finden immer wieder die Schlachten zwischen der Avantgarde und den Traditionalisten statt oder die zwischen den Kritikern, die nur l'art pour l'art für echte Kunst halten, und denen, die jene für bloß artistisch, arm und letztlich unernst erklären … Die Geschichte der ästhetischen Wertung lässt hier kaum Grenzen erkennen, fürchte ich: Während die meisten Kunstgebildeten es heute wohl für eine Sache des Privatgeschmacks halten würden, ob jemand die Architektur der Gotik, der Renaissance oder des Barock tendenziell höher schätzt, hat es unbestreitbar Zeiten gegeben, in denen auch unter den Stilepochen eine mehr oder weniger unbestrittene Rangordnung herrschte; es gab mehr als eine querelle des anciens et des modernes und es ist noch nicht lange her, dass die klassische griechische Antike in mehr als einer Gattung die Maßstäbe setzte (oder man jedenfalls allgemein so tat als ob …).
Und nachdem ich das so weit geklärt habe, stelle ich fest, dass ich nicht genau weiß, ob meine Ausstellungen an Berninis »Apollo und Daphne« ein Fall einer individuellen Kritik sein sollten (ein Werk wird irgendwelchen getrennt vom Einzelurteil auszuweisenden Kriterien nicht oder weniger gerecht …) oder ob ich zu einer einordnenden Wertung angesetzt habe (ein Werk ist ein typischer Vertreter dieser oder jener Stilgruppe, der bestimmte ästhetische Gebrechen anhaften …). Man muss obendrein eine ganze Menge Werke kennen und verglichen haben, um auch nur im Hinblick auf die Klarheit über die Art des ästhetischen Urteils klar urteilen zu können …
Wenn man etwas Klares und Gründliches über die Verwendung des Ausdrucks ›Geschmack‹ lesen möchte, auf dass man das Wort hinterher differenzierter gebrauche, besorge man sich folgenden Aufsatz:
Werner Strube: »Über den Geschmack läßt sich (nicht) streiten. Traditionelle sprachanalytische Lösungen des De-gustibus-Problems«. In:
Philosophy, Theology, Culture. Problems and Perspectives. Hg. v. Tengiz Iremadze u. a. Tbilissi 2007, S. 348-365. (Stark überarbeitete Fassung von: »Zur Geschichte des Sprichworts ›Über den Geschmack läßt sich nicht streiten‹«. In:
Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 30 [1985], S. 158–185.)
Rom, Anschauungen
Ein Bekannter (das Wort sagt zu viel und zu wenig; es gibt halt nicht für alle Maße und Arten der persönlichen Vertrautheit und Distanz und die Dimension ihrer Erwünschtheit ein eigenes Wort, zumal wenn noch die Schattierungen im virtuellen Raum dazu kommen), ein Bekannter also ist gerade in Rom und berichtet im Chat von Erlebnissen mit Gebäuden, Gemälden und Skulpturen. Zuletzt hat er unter anderem Berninis „Apollo und Daphne“ (jetzt in der Galleria Borghese) hervorgehoben. Ich habe angemerkt, die Diskussion über diese Plastik spiele eine Rolle bei den Versuchen, die Grenzen der Künste abzustecken, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hartnäckig angestellt wurden. Ich weiß aber nicht mehr, wer darauf hinweist (Lessing im
Laokoon? Winckelmann wendet sich gegen Bernini …; Goethe erwähnt ihn später überhaupt nicht direkt, sagt das Register der Hamburger Ausgabe); vielleicht tut es mangels Anschauung keiner der damals führend Beteiligten, sondern hätte es bloß tun sollen: Denn die Darstellung jener ‚Metamorphose‘ ist doch vielleicht der wichtigste Versuch (bestimmt in der Plastik des Barock), die Begrenzung der Bildhauerei (und auch der Malerei) auf die Darstellung eines Augenblicks durch den Trick der Wahl des ›fruchtbaren Augenblicks‹ aufzuheben.
Ob das gelingt, hängt auf der einen Seite eben von der richtigen Wahl und natürlich der gelungenen Darstellung jenes Augenblicks ab, auf der anderen Seite aber schlicht von der Bezugnahme auf den als bekannt vorausgesetzten Mythos (jedenfalls machte man das damals so und konnte es bei seinem Publikum so machen): Eine Szene wie die von Bernini in Stein gehauene ist vielsagend für den Betrachter, der Ovids »Metamorphosen« kennt, wenigstens die populärsten Geschichten, wenigstens dem Stoff nach. Mit einem in der klassischen Mythologie völlig Ungebildeten, der ansonsten aber Verständnis für Plastik hat, müsste man den Versuch anstellen; ich glaube, ein bisschen verwirrt wäre der allemal.
Aber darauf will ich im Augenblick nicht hinaus: Ich habe mich nicht recht getraut, jenem Bekannten zu gestehen, dass ich just gegen diese Figur früher so meine Vorbehalte hatte (tendenziell gegen die barocke Plastik im Gegensatz zu der der Renaissance überhaupt). Nun kenne ich sie nur von ein paar Abbildungen, und das mag entscheidend sein; ich bin vielleicht nicht ganz so sehr wie Herder davon überzeugt, dass man Plastik mit den Augen wie mit Fingern von allen Seiten abtasten muss, aber auch auf Bildern aus verschiedenen Blickwinkeln sieht man klar, dass die Gruppe zur Betrachtung von allen Seiten, sozusagen im Umgang angelegt ist. Da mag sie jenes Leben entfalten, auf das es bei dem Sujet ankommt, und das bei der verkleinerten zweidimensionalen, statischen Abbildung auf der Strecke bleiben muss.
Mein Einwand ist aber, meine ich, ein anderer, einer aus naturalistischer Gesinnung, deren Rustikalität mir etwas peinlich ist: Sieht man angesichts der Skulptur nicht, statt der Leidenschaft des liebestollen Gottes (sic deus in flammas abiit, sic pectore toto uritur et sterilem sperando nutrit amorem – ich wollte, ich könne lateinische Verse skandieren), statt der Erschöpfung (viribus absumptis expalluit illa, citaeque victa labore fugae …) und Furcht der Fliehenden, der jungfräulichen Nymphe, halb noch vor dem mutmaßlichen Gewalttäter, halb vor der Verwandlung, die mit ihr geschieht, sieht man stattdessen nicht – ein bisschen früh, ein bisschen stark – die Kunst Berninis, nimmt man nicht die Geste war: Schaut her,
mir gelingt es, all das in Stein zu bannen, in totem Stoff die Geschichte auf dem Höhepunkt ihrer Dramatik zu erfassen; die unterschiedlichen Leidenschaften, die Reize des männlichen Gottes und der keuschen Nymphe, sogar die Verwandlung des eben noch flüchtenden Menschen in einen Lorbeerbaum – den schwierigsten denkbaren Vorwurf habe ich gewählt, ich habe Ovid in die Schranken gefordert und ich triumphiere!
Wagemut und Selbstbewusstsein stehen einem Künstler, einem, der Großes leisten will, gut an; dass er ziemlich deutlich die Herausforderung der vorgeblichen Begrenzung seiner Kunst thematisiert, kann man ihm heutzutage (wo die Phrase vom ›Grenzen sprengen‹ bei der Anpreisung jedes sein-sollenden Kunstwerks einfach zum Repertoire gehört) kaum vorwerfen. Dennoch ist mir ein Werk, das ein wenig länger zum Verweilen beim Sujet (das doch fraglos dargestellt ist), zum Einfühlen einlädt (unter anderem in die Empfindungen der Figuren, eben so, wie sie der Künstler darstellt), lieber. (Ein naturalistischer Geschmack ist kein Charakterfehler.)
Allerdings deutet die Reaktion des erwähnten, geschätzten Rom-Besuchers an, dass die Plastik jenes elegante Spiel mit dem Staunen des Kunstfreunds doch nicht so stark inszeniert – oder erst obendrein, nachdem der überraschte Betrachter eben den fast rasenden Apollo, die verzweifelt sich in die Verwandlung rettende Daphne und das erstaunliche Schauspiel der Metamorphose anschaulich erlebt hat. Und dann wäre gegen Berninis Selbstherrlichkeit angesichts der herrlichen Skulptur gar nichts zu sagen. Man sollte sie sich anschauen. (Ich beneide den Rom-Besucher.)
Auch das ist eine kleine Baukasten-Homepage, die leider nicht ganz so bescheiden daherkommt wie meine erste.
Letzte Änderung:
17.11.2024, 14:15 Uhr
© Armin Emmel