»Aristippos erklärte, der größte Gewinn, den er aus der Philo­so­phie gezogen habe, sei der, daß er nun mit jedem frei und offen rede.«

Montaigne, Essais, II.17

Wenn man sich so nach und nach durch Montaignes Essais (in der schö­nen Über­­setzung von Hans Stilett) liest, könnte man leicht eine Seite mit tref­fen­den Zitaten füllen, die zusammen auch den Zitie­renden cha­­rak­­te­­ri­sieren wür­den. So ganz aus zweiter Hand möchte ich dieses Geschäft al­ler­dings nicht betreiben; ab und an ent­steht ein Gedanke oder drängt sich mir eine Be­ob­ach­tung auf, die ich mitteile, wenn ich mir einen inter­essier­ten Adressaten vor­stel­len kann. Ob es nun gerade Geistes­blitze sind, ob ich den Ver­dacht hege, zu­erst auf den Ge­dan­ken gekommen zu sein, soll dabei keine große Rolle spie­len. (Wenn ich frei­lich weiß, dass ein anderer das Gleiche besser gesagt hat, zitiere ich ihn lieber.) Wie privat es hier zu­gehen wird, muss sich zeigen. Aber keine Sor­ge: Der Be­su­cher, der neu­gierig auch diese Unter­­seite an­ge­klickt hat und nun plötzlich quasi direkt neben meinem Schreib­tisch steht (keine Angst, der Pfau ist zahm) …

… ist mir nicht unvermutet zu nahe getreten. Trotzdem sollte ich ihn warnen: Hier ist nicht aufgeräumt (d.h. hier stört es mich nicht, dass nicht aufgeräumt ist). Hier geht es nicht wissenschaftlich zu, hier wird kein philo­so­phi­sches Handwerk ausgeübt, denn hier feh­len allerorten Belege und für meine Behauptungen ist statt soli­der, zur Ver­all­ge­mei­ne­rung ein­laden­der em­pi­rischer Befunde bloß meine Wahrnehmung die (ein­ge­stan­de­ner­maßen) schwan­­ken­de Grund­lage. Ungeordnetes und Unfertiges bleibt absichtlich so; wenn man Ro­man­tiker wäre (ist ein Phi­lo­sophie­histo­riker nicht qua talis so einer?), würde man von ›Fragmenten‹ sprechen … Hier wer­den leicht Mei­nun­­gen laut, Urteile ab­ge­geben, die der Besucher nicht teilen wird. Solche Freiheiten nehme ich mir an dieser Stelle heraus, denn dafür habe ich den Ort ge­schaf­fen. Es kann auch sein, dass die Texte einfach langweilen, gar anöden! Darauf habe ich es aber nicht abgesehen …
Technisch ist in diesem Gehäuse nichts auf der Höhe: Es gibt keine Blog-Funk­tio­na­li­tät (denn eigentlich weiß ich nicht recht, wozu die gut sein sollte – der neue Homepage-Baukasten stellt so etwas zur Verfügung, ich muss es irgend­wann mal ausprobieren), das kommt dem social-media-erfah­renen Be­sucher viel­leicht un­prak­tisch vor. Ich behandle diese Seite einfach wie einen Stapel: Das neueste Blatt liegt oben, und indem ich neue Blätter dazu lege, wandern die alten nach unten. Wenn der Besucher von oben nach unten liest, kann er auf­hören, sobald er auf Be­kanntes stößt (vorher gefälligst nicht!).
Wie man links sieht, gibt es noch einen zweiten Stapel, der Notizen über (meistens nicht-philo­so­phi­sche) Bü­cher enthalten wird – Be­wer­tun­gen nach der Lektüre, Ge­­dächt­­nis­­stüt­zen zu Details, aber auch (unten auf der Seite) Zitate, die sich vielleicht noch einmal ander­weitig ver­werten lassen … Montaigne ist natürlich auch dabei!

29. April 2022

Besonnenheit im Kriege, oder: Probleme der einen und Pflichten der anderen Leute


Heute ist in einer Zeitschrift, die ich nicht regelmäßig lese, ein Text publiziert worden, dessen program­ma­tischen Inhalt tagesschau.de unter der (auch die Bericht­erstattung der ARD kennzeich­nenden) Über­schrift »Prominente fordern Scholz zu Besonnenheit auf« wiedergegeben hat. Ich habe den Publi­ka­tions­ort er­goo­gelt und den ziemlich kurzen Text gelesen. Danach war es mit meiner Beson­nen­heit wieder einmal vorbei:


Es gibt Leute, die im Laufe des Krieges gegen die Ukraine immer wieder bemerken, dass die Positionen, die sie je schon vertreten haben, richtig waren und sind und sich wunderbar bewähren würden, hätten nicht andere über dem Kriegsgeschrei des Westens (die anderen sprechen vorsichtiger, vielleicht be­son­ne­ner, von einer Spezial­operation) die Nerven und den Verstand verloren. Zur ersten Gruppe von öffent­lich Denkenden und Meinenden gehören die Autoren und Unter­zeichner eines »Offenen Briefes« an den Bundeskanzler, der heute in der in Köln erscheinenden Zweimonats­schrift »Emma« veröffentlicht wurde. Zweck des Schreibens ist es, Scholz dazu zu bewegen, vor weiteren Waffen­liefe­rungen an die Ukraine Abstand zu nehmen:

»Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch in­direkt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu bei­zu­tragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffen­still­stand kommen kann; zu einem Kom­­pro­miss, den beide Seiten akzeptieren können.« – Zu einem Waffenstillstand, der auf einem »Kom­pro­miss« zu beruhen hätte, kann es also nach Ansicht der Autoren nur kommen, wenn die Ukraine keine weiteren Waffen erhält, mit denen sie sich effektiv verteidigen kann, wenn also allein die russi­sche Seite reichlich mit schweren Waf­fen aller Art ausgerüstet bleibt (von denen sie, wie man jeden Tag sieht, auch hem­mungs­los Gebrauch macht, allerdings zu Angriffs- und Erobe­rungs­zwecken). Soso. Klingt komisch, aber auch nach Beginn des Krieges hört man das immer wieder, nicht nur von den Erst­unter­zeichnern dieses Briefs. Stimmt auch irgend­wie: Schneller wird ein »Kom­pro­miss« allemal ge­schlos­sen, wenn eine Partei das Angebot der anderen nicht ab­leh­nen kann.

Die Autoren räumen freilich andererseits eine moralische Pflicht ein, »vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen«. Diese Pflicht habe aber ihre Grenzen. Will sagen: Wenn diese Grenzen er­reicht sind, soll man, muss man der Gewalt
ohne weitere Gegenwehr weichen? Ja, wirklich?

Die Grenzen werden benannt: »Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Ers­tens das kate­gorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.« Das ist ein merk­würdiges kategorisches Verbot in einer Sache, die ihrer Natur nach gra­duell ist, wenn schon mehrere Staaten Nuklear­waffen besitzen. Aber vielleicht geht es nur um das Manifest-werden des Risikos? Wann wird diese Gefahr manifest? Wenn eine Partei un­verhohlen mit der Anwendung von Atom­waffen droht (und man deren Führer für verrückt genug hält, sie wirklich einzusetzen)? Dann muss die andere Seite sofort kapitulieren? Es ist kategorisch verboten, auch nur das klar erkennbare Risiko der Eskalation zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen, wenn man sich gegen einen Angriff wehrt? Offensichtlich kann man die Gegenwehr gleich sein lassen und sich die eigenen Verluste ersparen (richtig nett sieht es in manchen Orten der Ukraine
jetzt schon nicht mehr aus), wenn der Angreifer zufällig eine Atommacht ist. Diese Macht müsste ja nur mit ihren Nuklear­waffen drohen, wenn es mit den konventio­nel­len Waffen nicht so flutscht … (genau das ist übrigens der Fall).

Das sagen die Autoren natürlich nicht, sondern: »Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen aller­dings könnte Deutsch­land selbst zur Kriegs­partei machen.« Die Lieferung kleiner Mengen schwerer Waffen und großer Mengen leichter Waffen dagegen nicht? Wieso? Wo steht das geschrieben? Wie würde denn Deutsch­land durch diese Lieferungen Kriegspartei? Indem die russische Seite auf diese Lieferungen mit einem (mei­net­wegen: Gegen-)Angriff auf mindestens ein NATO-Land reagierte, anders nicht. (Das steht in dem Offenen Brief auch im nächsten Satz.) Es gibt keine Garantie, dass Putin und Komplizen nicht so handeln werden. Bei anderen Waffen­lieferungen aber auch nicht, explizit hatte sich das Putin-Regime zu Anfang des Überfalls auf die Ukraine ja jede Einmischung verbeten. Fast alle NATO-Staaten und einige andere haben sich aber durch Wirtschafts­sanktionen und die Lieferung von Waffen und Informationen an den Angegriffenen eingemischt. Die russische Seite hat trotz vieler drohender Worte bislang
außerhalb des ukrainischen Territoriums nichts gegen die west­lichen Waffen­lieferungen unter­nommen. Der Grund liegt auf der Hand. (Für die, die ihn nicht erkennen: Wenn die russischen Angriffs­truppen schon nicht mit der kleineren und schlechter bewaffneten ukrainischen Armee fertig werden, ist es nicht gerade viel­ver­spre­chend, gleich mehrere weitaus stärker be­waffnete Armeen zu Kampf­hand­lungen her­aus­zu­for­dern. Man kann freilich nie wissen … Hitler hat den USA den Krieg erklärt, nicht um­gekehrt …)

Aber: Deutsche Intellek­tuelle schreiben, da geht es nicht um Interessen, Macht und Kalkül, iwo. »Verant­wor­tung« ist die Parole. Die hat nicht nur der »ursprüng­liche Aggressor«, nein, sie geht, so die mahnen­den Worte, »auch diejenigen« an, »die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem ge­gebenen­falls ver­bre­che­ri­schen Han­deln liefern«. Ei, ei, ein Motiv liefern. Das reicht? Die Aussicht auf Beute etwa? »Ver­ant­wortung« hat dann nicht nur der Räuber, sondern auch der Juwelier (die Bank eh, klar, wir sind ja irgendwie alle anti­kapi­talis­tisch, nicht wahr, c’est chic toujours).¹ Das ist garstig, wenigstens dem Juwe­lier oder auch der weiland Rent­ne­rin gegenüber, die einmal im Monat das
Motiv lieferte, ihr die Rente zu rauben, als die noch bar ausgezahlt wurde. Ein anderes Motiv! Sagen wir, die Aussicht, das erste Ver­bre­chen ungestört zu Ende bringen zu kön­nen? »Verant­wortung« dafür, dass er vom Mörder auch noch erschossen wird, hat, meinen die Autoren, »auch« derjenige, der dem Opfer zu Hilfe kommen will. Zwei­fels­ohne ›liefert er ein Motiv zu verbreche­ri­schem Handeln‹. Wir reden von Verantwortung, da würden wir es uns gewiss zu einfach machen, wenn wir bloß vom Übel­täter verlangten, er möge von der üblen Tat ablassen … (Das Opfer soll den Täter nicht pro­vo­zie­ren … naja, ein heikles Thema, zumal in der »Emma« …)

Das ist ein bisschen heillos, ganz werden diese Denkerinnen und Denker es nicht so meinen, wie sie ge­schrie­ben haben … Sie haben zu ihrem Glück noch mehr Argumente, so das mit der anderen Grenze:

»Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrai­nischen Zivil­be­völ­ke­rung. Selbst der berechtigte Wider­stand gegen einen Aggressor steht dazu irgend­wann in einem un­erträg­lichen Miss­ver­hält­nis.« Tja, irgendwann … vielleicht. Das gibt aber keine
Linie. Der Prämisse hätten ein paar ältere Deutsche (Kant, Schiller, Hölderlin zum Beispiel, allerdings weiße alte Männer) übrigens wider­spro­chen. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, sondern, um es kurz zu machen, die Freiheit. Das ist ein gefähr­liches Wort, ja. Aber man wird niemanden zwingen wollen, sich einem fremden Diktator (Mörder übrigens auch) zu unter­werfen, weil die Fort­setzung des Wider­stands Leid und Elend mit sich bringt, oder?

Die Autoren meinen: Doch! Es sei nämlich ein Irrtum, »dass die Ent­schei­dung über die moralische Ver­ant­wort­barkeit der weiteren „Kosten“ an Menschen­leben unter der ukrainischen Zivil­bevöl­kerung aus­schließ­lich in die Zuständig­keit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.« Hier ist raffinier­ter­weise die ukrainische Regierung statt des ukrainischen Volkes genannt. Stimmt ja irgendwie auch, als Staats­volk handelt man durch die Regierung (ansonsten wird jeder einzeln vom Besatzer er­schos­sen oder verschleppt, wenn er … Dumm­heiten macht). Und so haben wir das erbau­liche Ergebnis, dass nicht die Ukrainer entscheiden, wann
ihr Leid den Wert ihrer Freiheit übersteigt, sondern die universale Vernunft … in der konkreten Gestalt der Einsichten der Autoren des Offenen Briefes und hernach gefälligst des Bun­des­­kanzlers. Die Wert­entschei­dung muss qua Uni­ver­sa­li­tät der Moral von der deutschen Regierung getroffen werden und nicht von der ukrainischen. Höhere Einsicht hat man allemal im einstweilen sicheren Hinter­land … Honi soit qui mal y pense. (So ein Schelm bin ich aber.)

Auch nicht so überzeugend, wenigstens nicht gerade zwingend? Man muss die Dinge schließlich und endlich nicht nur mit praktischer Vernunft betrachten, sondern sie auch global­galaktisch sehen: »Die […] eskalie­rende Auf­rüstung könnte der Beginn einer welt­weiten Rüstungs­spirale mit katastro­phalen Kon­sequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden [wir wollen den Unterschied zwischen Diktatur und Willkür­herr­schaft und Demokratie und Rechts­staat auch nicht über­betonen, also lieber gar nicht erst nennen, schließlich hat jeder sein Päck­lein zu tragen …
es gilt (ganz unpersönlich):], einen welt­weiten Frieden anzustreben. [Hört, hört!] Der europäische Ansatz der ge­mein­­samen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.« Sehr schön, Friede, Vielfalt (jawohl, auch der Regierungs­formen, schmuck war Herr Lukaschenko in seinen besten Jahren und post­sowje­tischen Uniformen doch!), Umwelt­schutz, Europa, Gesundheit, das lässt sich hören.


Nur, was war nochmal das Ausgangs­problem? Ach ja, der unschöne Angriffs­krieg, der »Bruch der Grund­norm des Völker­rechts«, gegen den man sich wehren muss. Nur halt ohne Waffen, jedenfalls ohne schwere, und überhaupt nicht zu viel und zu lange. Keinesfalls so viel, dass der Aggressor dadurch an der Durch­setzung aller seiner Absichten gehindert wird. Wenn er es unbedingt haben will, müssen wir (naja, die) ihm etwas ab­geben, das ist doch nur fair. Denn sonst spielt er vielleicht verrückt, hat jedenfalls ein Motiv dazu, und wir wären schuld … Bis jetzt ist er ja eigentlich ein lieber Kerl, mit dem man sicher einen Kompromiss findet, nee, ist ja noch besser, mit dem die Ukrainer sicher einen Kompromiss finden, mit etwas gutem Willen … es muss ja nur die Regierung in Kiew – oder war’s die in Berlin? – entscheiden, dass ein paar Millionen Ukrainer sich in bettel­armen ›Volks­republiken‹ terrori­sieren lassen sollen … ach was, flüchten können sie ja auch, das kommt der Vielfalt in Europa nur zugute! Und wenn der Aggressor etwas von dem bekommt, was er sich durch den Angriffs­krieg (pscht, wir wollen ihn doch nicht schon wieder pro­vo­zie­ren), also mittels seiner Spezial­operation nehmen wollte, dann wird er sicher wieder brav, wir brauchen nicht aufzurüsten, beziehen wieder ganz viel billiges Gas von ihm (Klima­wandel? Brücken­techno­logie!), machen gute Geschäfte (nur die bösen Rüstungs­konzerne nicht, ätsch!) und freuen uns auf die Verhandlungen, wenn wir wieder in unserem Sandkasten mit Putinchik spielen dürfen. Mal sehen, wer dann mit Kompromiss-Schließen dran ist. Ene mene miste, es rappelt in der Kiste, ene mene meck und Estland ist weg. Oder so ähnlich.

Jetzt kommt der letzte Absatz des Briefes ungekürzt:

»Wir sind, sehr verehrter Herr Bundes­kanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungs­chef von Deutsch­land ent­scheidend [!] zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer histo­rischen Ver­ant­­wortung - und in der Hoffnung auf eine gemein­same friedliche Zukunft.«

Beinahe, beinahe hätten sie explizit gesagt, dass halt die Ukraine diejenigen Kompromisse machen muss, die nötig sind, damit »unsere heutige (Wirtschafts)Macht« erhalten bleibt. Die Ukrainer haben doch nichts zu verlieren außer ihrem lumpigen Bisschen Selbst­bestim­mung. Wir aber …

Pfui, das ist schon wieder zynisch, den Autoren geht es bestimmt, Hand aufs Herz, nicht nur um ihre Ruhe, ihren Wohlstand und ihre Lieblings­projekte (wirklich, darum geht es uns allen, geschenkt); sie wollen sich nicht nur in ihrem politischen Sand­kasten beim Spiel mit den (Re-)Förmchen nicht stören lassen. Sie denken auch »in Anbetracht unserer historischen Verant­wortung«. Die durfte wirklich nicht fehlen. Also: Die deut­sche Geschichte lehrt ganz klar die Pflicht zum Kompromiss mit dem Aggressor. Jawohl. Weil dann die Wehr­macht vielleicht heute noch in der Ukraine … gewiss, Hitler hätte halt auch kom­promiss­­bereit sein müssen, aber Putin ist ja nicht Hitler … Nein, so kann das auch nicht gemeint sein, das ist ja noch zynischer.

Vielleicht soll gesagt sein, dass die Ap­pease­ment-Politik doch richtig war (obwohl wir alle in der Schule etwas anderes gelernt haben), wenn die Briten nicht den Fehler gemacht hätten, nach München 38 schließlich noch auf­zu­rüsten? Das muss es sein! Die haben einfach die Nerven verloren, dadurch kam die fatale Rüstungs­spi­rale in Gang, die ein Jahr später schon in den Welt­krieg geführt hat. Und selbst dann hätten die Polen ja noch einen Kompromiss schließen können, das hatten die Tschechen doch so schön vor­machen dürfen (sol­len, müs­sen) … Den ganzen langen Welt­krieg mit seinem schreck­lichen Leid, am Schluss sogar für uns in Deutsch­land, hätten die Polen mit einer Portion uni­ver­saler Vernunft teuto­ni­scher Ge­schmacks­rich­tung ver­meiden können, aber sie mussten sich ja unbedingt wehren und die un­ver­ant­wort­lichen Briten haben sie auch noch bestärkt und sind sogar motu proprio Kriegs­partei geworden … Die Geschichte darf sich nicht wieder­holen! (Oder, wie der DGB über­morgen so treff­sicher verlaut­baren wird: Nie wieder Krieg!)

Jedes noch so schwierige welt­historische »Problem« hat eine »Lösung«, wenn man deutsche Intellektuelle ranlässt, die es drängt, ihrer schweren Verant­wortung denkend selbst gerecht zu werden! ›Die Politik‹ sollte für den nächsten Spannungsfall allerdings eine Bundesbrech­tüten­reserve vor­halten. Starker Bedarf kann noch vor dem Einsatz von Strahlungswaffen entstehen.

1 Den Kapitalismus abzulehnen, jedenfalls eine gerechtere Wirtschaftsordnung zu suchen und anzustreben, scheint mir, um das klar­zu­stel­len, nicht nur allweil fesch zu sein, sondern richtig. Es kommt natürlich darauf an, was man dar­unter versteht … Davon, dass der Kapi­ta­lis­mus, den wir leider haben, verwerflich wäre, würde nicht alles, was kein Kapitalismus ist, richtig oder bloß weniger verwerflich. Aber selbst wenn man diesen Fehl­schluss an­bringen wollte, würde Putins Russ­land ebenso wenig in den Genuss einer vor­teil­haf­ten Wer­tung ge­langen wie das China, in dem eine sich immer noch so nennende ›Kom­mu­nistische Partei‹, re­spek­tive deren No­men­kla­tura herrscht (Karl Marx we­nigs­tens hat das Glück, von den vor­de­ren Plätzen auf der offiziellen Liste der Väter jener Weis­heits­lehre, die angeblich diese Partei in­spi­riert, durch die Namen der großen Männer Mao, Deng und Xi ver­drängt worden zu sein). We­­sent­­liche kapi­­ta­lis­tische Elemente der Ge­sell­schafts­ordnung, sol­che der übelsten Art, sind dort nicht zu über­sehen (wenn man nicht beide Augen zu­macht). 9.6.2022

6. April 2020

Der Kunstmarkt und andere Unebenheiten (Alternativtitel: Kunstwerke und andere Singularitäten. Zur Arbeitswerttheorie, Folge 2 - oder schon 3?)

Vergegen­wärtigen wir uns mit der gebotenen Ausführlichkeit ein Geschehen, das sich bei der uns längst be­kannten sess­haften Familie sogar schon zugetragen hat, bevor sich andere Menschen an der nächst­ge­legenen Quelle niedergelassen haben, ein Geschehen, das in dieser Familie noch lange immer wieder erzählt wurde, sozusagen eine Ur­erfah­rung: Bei unseren Ur-Waltons tauchte eines morgens, in aller Frühe, aus dem Nebel, ein Fremder auf, ein Fremder von anderswo, offenbar aus weiter Ferne. Er sieht anders aus, ist anders ge­kleidet, spricht anders und benimmt sich merk­würdig, es liegt etwas Über­legenes, Welt­er­fah­renes in seinem Wesen, so viel spürt man. Aber er ist schwach, sehr schwach, er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Ur-Waltons bereiten ihm ein Lager auf Stroh, geben ihm Wasser, bieten ihm zu essen an … Er aber weist die Nah­rung von sich, murmelt immer wieder in seiner fremden Sprache vor sich hin, mit selt­samem Nach­druck, um­klam­mert den Beutel, den er bei sich hat, wird aber immer leiser … Die Kinder stehen um ihn her­um, neu­gierig, verlegen, und sie werden auch immer leiser. Da richtet sich der Fremde halb auf, sieht den mitt­leren der Söhne durch­dringend an, als ob er ihn end­lich er­kennen würde, spricht ein­dring­lich auf ihn ein und holt aus sei­nem Beutel einen un­gefähr zwei Fäuste großen, farbigen, selt­samen Gegen­stand hervor. Unter vielen un­ver­ständ­lichen Worten winkt er den Jungen heran und drückt ihm diesen Gegen­stand in die Hand. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein, dass das Ding in die rechten Hände gelangt … er hebt wie be­schwö­rend die Hände zum Himmel, deutet dann in Richtung der Sonne, sinkt er­mattet auf sein Lager zurück, wird still, hört auf zu atmen, ist tot.
Wenden wir uns rasch von der trau­ri­gen Szene ab, über­gehen wir auch die Be­erdi­gung des fremden Mannes, trösten wir uns damit, dass in der Jung­stein­zeit der Tod fast allgegenwärtig ist (auch wenn das, bei Lichte besehen, alles andere als ein tröst­licher Gedanke ist). Verfolgen wir statt­dessen das Schicksal des bunten Gegen­standes. Ist er von Men­schen­hand her­gestellt oder ein Produkt der Natur, in weiter Ferne irgendwo gefunden? Eine Zweck­be­stim­mung ist ihm nicht anzusehen, auch wenn er Teile hat, hohen Glanz, Farben, die zueinander zu passen scheinen, eine Form, die Hand und Auge schmeichelt, an Menschen und Tiere erinnert, aber an kein be­stimmtes … Niemand weiß, wozu er da ist, aber jeder freut sich, dass er da ist.
Alle Mit­glieder der Familie waren dabei, wie der Fremde dieses Ding dem mitt­leren der drei Söhne über­geben hat, niemand zweifelt, dass es ihm gehören soll (auch wenn der prä­zise Begriff des Privat­eigen­tums noch lange nicht erfunden ist). Aber alle hätten es gern, wenn es auch nur wäre, um es den Nach­barn zu zeigen und den Ver­wandten, die ab und zu vorbei­kommen. Papa Walton denkt auch ein bisschen daran, was man für das Ding bei diesem durch­reisenden Händler ein­tauschen könnte, viel­leicht eins von den neu­mo­di­schen Kupfer­beilen (aber wer braucht eigentlich sowas)? Mama Walton würde den Gegen­stand am liebsten deko­rativ vor dem Hütten­eingang auf­hängen, hat aber auch schon an neu­arti­ges Keramik­geschirr gedacht …¹ Weil die Ge­schwister, fünf an der Zahl, das hand­lich-hübsche Objekt auch alle gerne hätten und am liebsten dauernd damit spielen würden, hat der Junge, dem es an­ver­traut wurde, damit be­gon­nen, es ungern aus der Hand zu geben; er hat es nicht immer so schnell zurück­erhalten, wie er ge­wünscht hätte, es ist zu Streit ge­kommen, wenn schon nicht zu bib­lischer Gewalt­an­wendung. Die ältere Schwester ist schließ­lich auf die kluge Idee gekommen, dem kleinen Bruder etwas zum Tausch an­zu­bieten für die Hinter­lassen­schaft des Fremden. Sie hat mit dem Angebot von ein paar Hasel­nüssen (dem Lieb­lings­lecker­bissen des Bruders) aus ihrem Vorrat an­ge­fangen, wurde aber schnell von dem ganz kleinen Bruder (einem fin­di­gen Nüsse­sammler) über­boten … eins kam zum anderen, bis die Ge­schwister so ziemlich ihre ganzen Schätze her­ge­geben hätten, hätte der Be­schenkte sich nur von dem Objekt der Be­gierde trennen wollen.
Solche Ge­schichten tragen sich zu, nicht nur unter Kindern, nicht nur in der (mittleren oder späten) Jung­steinzeit. Ähn­lich­keiten mit dem Kunst­markt sind nicht zufällig, sondern be­ab­sichtigt. Hat nun der Tausch­wert eines Dinges auf dem Kunst­markt viel mit der Arbeit zu tun, die darin ver­gegen­ständ­licht ist? Sehen wir zu, vielleicht doch mehr, als man denkt. Muss sich aber der Wert eines Kunst­werks unter allen Umständen auf Menge und Wert der Arbeit re­du­zieren lassen? Ich wüsste nicht, weshalb.
Die Ge­schichte legt größten Wert darauf, dass es sich bei dem frag­lichen Gegen­stand (für alle Be­tei­lig­ten) um ein Unikat handelt. Das liegt nicht nur an seinen intrin­sischen Eigen­schaften, sondern auch an den Um­stän­den, nicht seiner Ent­stehung (die sind un­bekannt), aber an denen seiner geheim­nis­vollen Her­kunft. Spä­tes­tens die verleiht im eine einzig­artige Aura. Papa Walton würde ja gerne alle seine sechs Kinder mit einem solchen Ding aus­statten, aber er hat keine Ahnung wie er es machen soll; und selbst wenn er etwas Ähn­liches zustande brächte, wäre es doch längst nicht dasselbe, sondern eine gut gemeinte Geste von Papa und nicht das Klein­od des ge­heimnis­vollen Frem­den. Man ist geneigt zu sagen: Ein solcher Gegen­stand ist in Gold, par­don: Kupfer nicht auf­zu­wiegen. Aber gut, je nach Um­stän­den trennt sich der Be­sitzer natür­lich doch davon, sei es, weil sein Inter­esse daran ge­schwunden ist, sei es, weil er in Not ist, sei es einfach, weil man ihm ein Angebot macht, dass er nicht ab­schlagen kann (dass abzu­schla­gen er sich nicht leisten kann).
In unserer Ge­schichte haben aber auch die Quellen des An­gebots ihre Be­son­der­heiten: Darin wird das an­ge­bo­tene Tausch­äqui­valent nicht der lau­fen­den Pro­duktion an Gütern entnommen, die zur Er­hal­tung der Fa­mi­lie regel­mäßig notwendig sind. Die Ge­schwister bieten einen Teil (oder gar das Ganze) ihrer kind­lichen Schätze an, der zwar aus durch­aus nütz­lichen Gegen­ständen besteht, die sogar er­ar­beitet (nämlich ge­sam­melt) sind, von denen zu trennen sie sich aber gut leisten können, sie werden aus den Fonds der Familie ja weiter er­nährt und er­halten.
Wie ist das nun auf ›dem Kunst­markt‹? Unter­schied­lich, würde ich sagen. Da kaufen Leute mit mitt­leren Ein­kommen bei­spiels­weise Druck­grafik von lebenden Künst­lern. Aus ihrem Lohn oder ihrem Gehalt be­streiten Leute wie Sie und ich (ein­zeln, aber zu­sammen) den Lebens­unter­halt von Künstlern. Nun hört man von den meisten Jüngern der Kunst nicht, dass sie reich werden. Man hört statt­dessen von recht vielen Kunst­beflis­senen, dass sie zwar gerne Foto­grafen, Maler, Bild­hauer oder irgend­etwas da­zwischen bzw. alles zu­sam­men wären oder werden möchten, dass es aber ein­fach zum Leben nicht reicht. Auf dem All­tags­kunst­markt trifft eine sicher kon­junk­turell schwan­ken­de Nach­frage auf das dif­fuse, schwer über­schau­bare An­gebot an Wer­ken von vielen mehr oder weniger pro­fes­sio­nel­len und manchen halben und ganzen Hobby­künst­lern. Wem es gelingt, von seiner Kunst zu leben, der muss regel­mäßig pro­du­zie­ren, sich ein wenig um die ›Ver­mark­tung‹ seiner Werke kümmern … und dürfte damit aller­hand zu tun haben. Er wird ver­suchen, für jedes Werk einen an­ge­mes­se­nen Beitrag zu sei­nem Lebens­unter­halt zu bekommen; folg­lich etwa ein Monats­ein­kom­men, wenn ihn ein be­stimm­tes Kunst­pro­dukt alles in allem einen Monat lang be­schäf­tigt hat. Das heißt natür­lich nicht, dass sein Ga­le­rist dieses Werk eben­so ein­schätzt, und es heißt noch weniger, dass er diesen ge­wünsch­ten Preis er­zielen wird. Aber ge­mittelt über seine Pro­duk­tion muss der erzielte Preis halt einen ent­spre­chen­den Bei­trag zum Unter­halt leisten, viel weniger geht auf Dauer nicht. Zwar, viel mehr wäre er­freulich, kommt auch, wie wir wissen, vor. Allein, auf dem All­tags­kunst­markt, mit dem wir uns gerade be­schäf­tigen, halt nicht. Künstler, auch gute, werden nicht qua Künst­ler­tum reich, nicht ein­mal wohl­habend.
Zum Reich­werden muss ein Künstler in einen anders funk­tio­nie­ren­den Kunst­markt auf­ge­nom­men werden, in den, von dem man manch­mal in den Nach­richten liest und hört, wenn nämlich bei einer Auktion eines Wer­kes ein Preis erzielt wurde, der das Publi­kum staunen lässt. Auf diesem Markt tref­fen (in den letzten Jahr­zehn­ten) be­stimm­te Kunst­werke unter anderem auf Kauf­ange­bote von Insti­tu­tio­nen und Indi­vi­duen, die meinen, Kunst sei eine ›solide‹ Geld­an­lage. Dem Finanz­guru Alan Green­span wird ein Zitat zu­ge­schrieben des Inhalts, jemand der etwas Wert­be­stän­­diges suche, solle in Kunst in­ves­tieren. Wir reden im Augen­blick über Phä­no­mene post­mo­derner Zeiten und es ist wirklich egal, ob er es gesagt hat und ob die Be­haup­tung wahr ist. Wahr ist jedenfalls, dass massiv in Kunst ›in­ves­tiert‹ wird. Große Summen Geldes, die nicht wissen, wohin mit sich, treffen auf natur­gemäß wenige Werke von Künstlern, die schon von sich reden ge­macht haben (nur solche kommen für eine ›solide‹ Kapi­tal­anlage in Frage). Die Werke der großen Meister der Ver­gangen­heit, deren Werk­zahl nicht mehr bedeutend ansteigen kann und bei denen die ziem­lich stabile Wert­schätzung von Fach­leuten und Pu­bli­kum eine weitere Stütze für das Ver­trauen auf sta­bilen Tausch­wert ab­geben kann, ge­langen nur zu ganz kleinen Teilen und relativ selten auf den Markt (er­zielen dann aber abso­lute Höchst­preise). Tot zu sein war und ist ein solider Vorteil auf dem Kunst­markt; in der Wiki­pedia-Liste der Ge­mälde, von denen be­kannt und ge­sichert ist, dass sie für mehr als 50 Millionen US-Dollar ver­kauft wurden, ent­decke ich heute genau einen noch lebenden, David Hockney (er selbst ist das Bild frei­lich nicht zu dem Rekord­preis los­ge­worden). Drängt mehr Geld auf diesen Kunst­markt, kommen wohl zwangs­läufig aus­ge­wählte lebende Künstler an die Reihe. Mit den Kriterien für deren Aus­wahl müssen wir uns hier nicht be­schäf­tigen. Dass Per­sön­lich­keiten dar­unter sind, denen es ge­lingt, Skandal zu er­regen, andere, die wissen, wie man um sich eine Aura ver­breitet (was beides als solches nicht ver­werf­lich ist), wird man kaum über­sehen können. Macht aber nix.
Jeden­falls können wenige aus­er­wählte Künstler nicht große Mengen an Werken erzeugen. Jeden­falls sind Kunst­werke (der meisten Gat­tun­gen) ein­malig, Uni­kate. Jeden­falls ist der Besitz von solchen Kunst­werken für den indi­vi­du­el­len Be­sitzer, um endlich Käufer dieser Art auch zu be­rück­­sich­tigen, mit umso mehr Prestige ver­bunden, je ge­suchter sie sind. Falls Sie so glück­lich sind, zum Bild­schmuck der An­dachts­ka­pelle Ihres An­wesens eine Hei­ligen­figur von Hans Lein­berger zu zählen, werden Sie alle Kenner der bayeri­schen Bild­schnitz­kunst der Re­nais­sance be­neiden; falls in Ihrer Garde­robe eine Skulptur von Damien Hirst als Hut­ab­lage dient, werden so ziem­lich alle Ihre Gäste von Welt (mit Hut) be­ein­druckt sein, auch wenn sie es nicht zeigen.²
Wenn man für den Moment darauf abstellt, dass es also um Waren geht, die nicht der Befrie­di­gung irgend­wie un­ab­weis­barer Be­dürf­nisse dienen, und um Käufer, für die Geld bei diesen Trans­aktionen, ›keine Rolle spielt‹ (während es schon darum gehen kann zu zeigen, dass Geld keine Rolle spielt – und dass es wohl auch des­wegen keine Rolle spielt, weil es ty­pischer­weise nicht als Ent­gelt für den un­ver­meid­lichen Ver­kauf der eige­nen Ar­beits­kraft ver­dient worden ist), wird man auf den Ge­danken ge­bracht, dass es noch mehr Pro­dukte geben mag, bei denen die Markt­preise wirk­lich keine Funk­tion der Arbeits­zeit sind, die zu ihrer Pro­duktion regel­mäßig und durch­schnitt­lich er­heischt wird.
Es gibt etliche Märkte, auf denen Waren und Dienst­leis­tungen an­ge­boten werden, die wenigstens vor­geb­lich ein­malig sind und deren Konsum, sagen wir es un­termi­no­logisch, Prestige bringt oder bringen soll. Mir fällt als nächs­tes die Gour­met­küche ein (keines­wegs weil ich sie ver­achten würde); aber das ist schon wieder ein halbes Gegen­bei­spiel, denn ein Sterne-Restaurant ist ein heikles Geschäft und ein Sterne­koch, der Eigen­tümer ist, wird kaum mehr Geld machen als ein ande­rer Geschäfts­mann, der im Dienst­leis­tungs­sektor eine ver­gleich­bare Anzahl von Men­schen be­schäf­tigt (re­spek­tive sich den Mehr­wert ihrer Arbeit an­eig­net) oder, worauf es für den Profit zunächst ankommt, ein gleich großes Kapital investiert hat. Dann wäre etwa noch der Wein­handel. Gewiss gibt es da Mond­preise für Rari­täten, die aus dem­selben Muster des Ver­haltens von An­bietern und Käufern zu erklären sind und durch Be­wer­tungs­mecha­nis­men, die wenig mit irgend­wessen Arbeit zu tun haben.⁴ Freilich, der Wein, den auch wohl­haben­de Leute zu trinken pflegen, muss konti­nuier­lich pro­duziert werden, und das be­nach­barte Wein­gut er­zeugt auf ver­gleich­barem Boden ähn­lichen. Dass guter Wein teuer ist hat viel mit ge­ringen Er­trä­gen, inten­siver Pflege, sorg­fäl­tiger Ernte und be­hut­sa­mem Aus­bau zu tun – in Kurz­form: mit der Menge von Arbeit, die darin steckt. Und in manchen Jahren steckt die ganze Arbeit, vielleicht noch ein biss­chen mehr als die durch­schnitt­liche, in be­sonders kleinen Ernte­mengen; ist dieser Wein dann trotz­dem gut, wird er wohl be­sonders teuer. Ein Schelm, wer dabei (nüch­tern) an die Arbeits­wert­theorie denkt!
Ganze Industrien be­mühen sich, ›Aura­preise‹ für ihre Pro­dukte zu recht­fertigen. Nicht nur Sekt­kelle­reien (re­spektive heut­zu­tage die Marke­ting­ab­tei­lungen der Luxus­güter­kon­zerne, denen diese gehö­ren), Pra­linen­her­steller, An­bieter im Manu­factum-Kata­log, hei­mische Wasch­maschinen­pro­du­zenten und min­destens ein Tech-Gigant, der ver­hindern will, dass die User Äpfel mit Birnen ver­glei­chen, geben viel Geld dafür aus, die Kunden davon zu über­zeugen oder ihnen weis­zu­machen, dass das, was sie ihnen ver­kaufen wollen, von nie­mand ande­rem zu haben ist. Sie wollen nichts anderes als auf einem eng um­schrie­benen Markt eine Mo­no­pol-Stellung (ein garstig Wort, aber denken Sie an Heidsieck Mo­no­pole, dann geht es runter wie …), denn die bringt auch nach klas­sischer und neo-klas­sischer Lehre Mono­pol­ge­winne mit sich. Weil der gute Markt da näm­lich nicht funk­tio­niere. Da reale Markt­teil­neh­mer erstens nun einmal nicht um­fassend in­for­miert sind und es zwei­tens halt durch sozio­öko­nomische Fak­to­ren mit­er­zeugte Po­sitions­güter gibt, mag zeit­weise durch solche Be­mü­hun­gen nicht nur eine Markt­nische ge­sichert werden können – so dass der Anteil der Marke­ting­kosten an den Pro­duk­tions­kosten über­durch­schnitt­lich ist und in den Tausch­wert dieser Marke­ting­auf­wand wirk­lich ein­geht –, sondern es kommt auch vor, dass relativ stabil über­durch­schnitt­liche Ren­diten erzielt werden. (Zwi­schen­frage zur Ver­ständ­nis­kon­trolle: Warum sind die ex­zel­len­ten Trüffel vom örtlichen Kon­ditor, wie die von Freundt in Mann­heim, leider noch teurer als die viel­be­wor­be­ne Marken­ware?)
Für die Fak­toren der Wert- oder Preis­er­mitt­lung gibt es ver­mut­lich ein Konti­nuum vom ›Mar­ken­er­zeug­nis‹, das aber ein ge­wöhn­liches Konsum- und In­dustrie­gut ist, bis zum »Sal­vator mundi« Leonardos, den mit Moham­med bin Salman ein Mensch ge­kauft hat, der wirk­lich nicht im Verdacht steht, die erfor­der­liche Summe von 450 Millio­nen durch Arbeit er­wor­ben zu haben (er steht im mehr als gut be­grün­de­ten Verdacht, ganz andere Dinge getan zu haben, freilich auch nicht, ein Fan des Er­lösers zu sein und in dessen Nach­folge ins Himmel­reich ein­gehen zu wollen; man muss kein Christ sein, um christ­liche Kunst, ähm, wert­zu­schätzen). Eine wirklich all­ge­meine Theorie der Preis­bil­dung auf Märkten, selbst auf ver­zerr­ten und auf solchen für Uni­kate, am Ende sogar noch außer­halb von Märk­ten, wird sich nicht auf die Ar­beits­wert­theorie stützen können. Un­ge­wöhn­lich gut si­tu­ierte In­di­vi­duen mögen spon­tan sagen­haft hohe Summen für Gegen­stände ihres Ver­lan­gens ausgeben. Na und? Der­jenige Ver­treter einer ›poli­ti­schen Öko­no­mie‹, von des­sen spe­zieller Arbeits­- und Mehr­wert­theorie hier schon die Rede war, hatte nicht die Absicht, für das, was dabei ge­schieht, eine Er­klä­rung an­zu­bieten.³ Eine im skiz­zierten Sinn um­fas­sende Wert­theo­rie mag hin­gegen am Ende zur Ana­lyse der his­to­rischen For­ma­tion ›kapi­ta­lis­tische Waren­pro­duk­tion durch Ar­bei­ter, die nichts zu ver­kau­fen haben als ihre Ar­beits­kraft‹ von bloß marginalem Nutzen sein.

1 Die Dar­stellung der Ge­schlechter­rollen in dieser Geschichte ist … stein­zeitlich, ich weiß. Aber ich weiß rein überhaupt nichts über die Band­breite der tatsächlichen gender-spezifischen Rollen im Neo­lithi­kum. Ich halte mich an eine betuliche ameri­kanische Fern­seh­serie meiner Jugend und bitte um Nach­sicht (und Mitleid wegen des Fernseh­pro­gramms in diesen mich prägenden Jahren).
2 Coronavirus-bedingt hatte ich noch keine Gelegenheit, das Standard­werk von Fred Hirsch zur neueren Theorie der sog. Positions­güter, Social Limits to Growth, Cambridge (Mass.) 1976 u. ö., in hiesiger Uni­versi­täts­biblio­thek zu entleihen. Ich plane, das nach­zu­holen. Wenn ich es bislang richtig verstehe, hat Hirsch die Theorie der Status­güter bzw. des Status­konsums von Thorstein Veblen erheb­lich ver­bes­sert.
3 »Es ist endlich […] fest­zu­halten, daß der Preis von Dingen, die an und für sich keinen Wert haben, d. h. nicht das Pro­dukt der Arbeit sind, wie der Boden, oder die wenigs­tens nicht durch Arbeit re­pro­du­ziert werden können, wie Alter­tümer, Kunst­werke be­stimm­ter Meis­ter etc., durch sehr zu­fäl­lige Kom­bi­na­tio­nen be­stimmt werden kann. Um ein Ding zu ver­kau­fen, dazu gehört nichts, als daß es mono­po­li­sier­bar und ver­äußer­lich ist.« Das Kapital, Dritter Band, Berlin: Dietz 1983 (MEW 25), S. 646.
4 Marx kommt im Kontext der Erklärung der Grund­rente (das ist eine stachelige An­ge­legen­heit) auch auf den Wein zu sprechen: »Wenn wir von Mono­pol­preis sprechen, so meinen wir über­haupt einen Preis, der nur durch die Kauf­lust und Zah­lungs­fähig­keit der Käufer be­stimmt ist, un­ab­hängig von dem durch den all­ge­mei­nen Pro­duk­tions­preis wie von dem durch den Wert der Pro­dukte be­stimm­ten Preis. Ein Wein­berg, der Wein von ganz außer­ordent­licher Güte er­zeugt, Wein, der über­haupt nur in relativ ge­ringer Quan­tität er­zeugt werden kann, trägt einen Mono­pol­preis. Der Wein­züchter würde in­folge dieses Mono­pol­preises, dessen Über­schuß über den Wert des Pro­dukts allein durch den Reich­tum und die Lieb­habe­rei der vor­nehmen Wein­trinker be­stimmt ist, einen be­deu­ten­den Sur­plus­profit reali­sieren.« Das Kapital, Dritter Band, Berlin: Dietz 1983 (MEW 25), S. 783. Man sieht hier übrigens, dass Marx einen sub­jek­ti­ven Wert­begriff kennt und an­wendet.

7. März 2020

In Mannheim geht in Kreisen des akademischen Proletariats ein Gespenst um, das Gespenst des Mar­xis­mus. Es scheint der Mottenkiste für ein Frühjahrssemester (oder länger) entkommen zu sein. Unter anderem haben sich Jochen B. (Insidern als ›Genosse Kant‹ oder ›Sister Merit‹ geläufig), Johannes F. (›Long John Fairly‹) und meine Wenigkeit (in der Redaktion der Schülerzeitung meines Gymnasiums war ich noch ›Chefideologe‹) ins Gruselkabinett begeben, um den zweiten Band des »Kapi­tal« zu lesen. Jawohl, da hört man Heulen und Zähneklappern und die Ketten, die die Proletarier immer noch zu verlieren haben, rasseln! Auf dieser read­ing spree gibt es nur hartes Brot und Nüsse zu knacken. Eine besonders fiese ist die Arbeitswerttheorie …

Viele Leute (darunter der gewiegte Käptn Buddelschiff, der schon mal tüchtig See­manns­garn spinnt, aber vor Gespenstern keine Angst hat) halten es nämlich prima vista für voll­kommen un­plau­sibel, dass der Wert (spe­ziell der Tausch­wert einer Ware) exklusiv von der Arbeit er­zeugt sein soll, die nötig war, um das Gut, das ge­tauscht wird, her­zu­stel­len oder zu be­schaf­fen. Sie sagen, dass doch auch Dinge einen Wert haben, die gar nicht durch mensch­liche Arbeit ent­stan­den sind, zumal dass Ma­schi­nen (Ro­bo­ter) auch Wert­volles er­zeugen können, dass der Wert eh etwas Sub­jekt­ives ist (wie viel ist mir das wert?), dass der Preis (von Wert zu reden hat halt keinen Sinn) durch An­ge­bot und Nach­frage fest­gelegt wird und durch sonst nichts – und noch man­cherlei, was ihnen ver­ständ­licher, sinn­vol­ler und übri­gens auch viel näher­liegend klingt. Leute, denen die Arbeits­wert­theorie irgend­wann ein­ge­leuch­tet hat, finden das er­staun­lich und irri­tie­rend. Können die Freun­de der These vom Arbeits­wert öko­no­misch ge-, vorge- oder ver­bil­deten Men­schen we­nigs­tens begreif­lich machen, wie man dazu kommt? Sehen wir uns einen Modell­fall an (weder Cam­ping­aus­flug noch Ver­eins­heim Mickey Mouse, eher ›Die Waltons in der Jung­stein­zeit‹), in dem das schließ­lich wer­tbe­haf­tete Ding wirk­lich nicht durch mensch­liche Arbeit her­ge­stellt oder auch nur be­reit­ge­stellt ist. Ja, wie? Hat diese ko­mische Theo­rie dann etwa immer noch einen Sinn?

Eine Familie A von Bauern (sagen wir in der An­fangs­zeit der Sess­haf­tig­keit und des Land­baus, wie man sich die so vor­stellt) baut auf dem Land um ihre Hütte herum alles an, was sie selbst be­nötigt. Die Ar­beits­kraft aller ar­beits­fä­higen Fa­mi­lien­mit­glieder (der Mit­glieder der Pro­duk­tions­ge­nos­sen­schaft Fa­mi­lie A) wird da­von in einem Durch­schnitts­jahr voll­stän­dig be­an­sprucht (in einem Jahr mit guter Ernte legt man Vor­räte an …). Bis­lang haben sie alles be­nö­tigte Was­ser aus einer nahen, aber außer­halb ihres be­bau­ten Landes lie­gen­den Quelle geschöpft.
An dieser Quelle lässt sich nun eine andere Familie B nieder, sperrt den Zugang zu dieser Quelle (es ist eine Karst­land­schaft: das Quell­bäch­lein fließt nur ein paar Dutzend Meter über ‚deren‘ Land und ver­sickert wie­der), ist aber bereit, die Nach­barn weiter Wasser schöpfen zu lassen, falls diese es gegen Pro­duk­te ihrer Land­wirt­schaft, sagen wir lager­fähige Hirse, ein­tau­schen. – Ge­rech­tig­keits­theo­re­tisch und auch prak­tisch ist nun durch­aus nicht klar, warum Familie A sich das ge­fallen lassen soll oder, anders ge­sagt, auf welcher Grund­­lage das be­an­spruch­te Eigen­tum an der Quelle und dem Quell­wasser stehen soll.
Nehmen wir aber ein­fach an, es sei kein Mo­no­pol ent­stan­den; deut­lich weiter ent­fernt von der Hütte der As gebe es schon einen Bach, der den Was­ser­be­darf der Fa­milie decken könnte. Sehen die As sich nun – ob aus Grün­den der Ge­rech­tig­keit (von wegen der Hei­lig­keit des Eigen­tums und so) oder der Macht­ver­hält­nisse – ge­zwungen oder ver­an­lasst, den An­spruch der Bs auf das Quell­wasser zu ak­zep­tieren, wird man vor­her­sehen können, dass sie bereit sind, Wasser von den Bs durch Tausch zu er­wer­ben.
Wun­der­bar, sagt der bür­ger­liche Öko­nom, da sieht man es, das Wasser wird sei­nen Preis haben, der jetzt in den Ver­hand­lun­gen zwischen A und B entsteht. B hat keine Arbeit in das Wasser oder die Quelle ge­steckt, es gibt kei­nen na­tür­li­chen Preis dieses Wassers, aber B hat es halt und gibt es um­sonst nicht her, dazu ver­spürt man seitens der Fa­mi­lie B keinen An­reiz. Man wird ein­fach sehen, wie viel Familie A das Wasser wert ist.
Allein, die As sind ho­mi­nes proto­oeco­no­mi­ci und über­legen (ge­mein­sam, denn er­ra­re hu­ma­num est, auch wenn John Boy an­er­kann­ter­maßen der Hellste ist), wie viel sie sinn­vol­ler­weise höchs­tens zah­len werden (wenn das ris­kan­te Ver­halten von Raub, Dieb­stahl oder Täu­schung aus mora­lischen und / oder Zweck­mäßig­keits­über­le­gun­gen nicht in Frage kommt). Und diese Über­legung wird so aus­sehen: Wir können das Wasser auch aus dem Bach holen, aber das ist müh­samer und kostet Zeit, Zeit, die wir nicht haben. Würden wir täg­lich Wasser vom Bach holen, könn­ten wir ent­weder weni­ger bzw. eine ge­rin­gere Viel­falt von Acker­früch­ten an­bauen oder wir hätten nicht genug Zeit übrig, die Hütte zu re­pa­rie­ren, Un­kraut zu jäten etc., und würden in diesem Fall von der Sub­stanz leben (aus der Krippe schallt es: „Das ver­bie­tet sich der Ge­ne­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit halber!“). Damit wir zu einer Quan­tität kommen, schätzen wir ab, wie viel wir von dem Gut, das die Bs von uns haben wollen, H-Hirse, bei Ver­wen­dung des Bach­wassers we­niger pro­du­zieren als bis­her, da wir die nahe Quelle be­nutzt haben. Klar ist, wir geben den Nachbarn höchs­tens etwas weniger als die­ses Dif­ferenz­pro­dukt, also etwas weniger als die Dif­ferenz­menge, die wir bei Ver­wen­dung des Quell­wassers ver­glichen mit Ver­wen­dung des Bach­was­sers ernten werden können.
Der Preis, den Familie B er­zie­len wird, hat also eine ein­deu­tige obere Grenze in der Produkt­menge, die in der Zeit pro­duziert werden kann, die bei der Was­ser­versor­gung aus der nahen Quelle zur Ver­fü­gung steht, bei der um­ständ­lichen Wasser­be­schaf­fung aus dem ent­fern­te­ren Bach aber nicht.
Die As sind, wie man sieht, für Neo­li­thi­ker gar nicht blöd. Sie ver­ab­reden sich noch, von diesen Über­le­gun­gen den Nach­barn nichts zu er­zäh­len und viel weniger zu bieten („Versuchen kann man’s“, sagt die Oma aus Er­fah­rung). Die Bs aber sagen sich, dass der gute Markt­teil­neh­mer ein gut in­for­mier­ter Markt­teil­neh­mer ist (oder ahnen so etwas jeden­falls), kennen aber die Pro­duk­tion der As
noch nicht so ge­nau, wissen folg­lich nicht, wie viel sie ver­lan­gen können, und haben des­halb die Kleine mit den guten Ohren zum Be­lau­schen des Fa­mi­lien­rats der As ins Ge­büsch an deren Hütte ge­schickt. Nach diesem Grün­dungs­akt der Wirt­schafts­spio­nage sind sie mit den De­li­be­ra­tio­nen der As und dem quan­ti­ta­tiven Re­sul­tat ver­traut (sonst müssten sie halt ein paar Jahre be­ob­achten). Und daher sind sie nicht be­reit, be­trächt­lich von der For­de­rung nach der vollen Dif­fe­renz­menge ab­zu­weichen (gut, man darf die Nach­barn nicht zur Ver­zweif­lung und nicht zur Weiß­glut bringen, sonst gehen sie aus Trotz zum Bach, einen kleinen Nach­lass wird man ge­währen müssen – dann haben alle etwas davon, könnte man sagen, wenn her­nach beim Selbst­ge­brann­ten die Stim­mung wieder in Ord­nung ge­bracht werden soll).
Voilà, der Preis, der Tausch­wert des Wassers und der dafür ein­ge­tausch­ten Hirse drückt sich in Arbeit aus, nicht in auf­ge­wen­de­ter, aber in er­spar­ter bzw. an­sons­ten auf­zu­wen­den­der. Und anders kann das auch nicht sein.

2. März 2020

Schon wieder habe ich mich in eine Lehrveranstaltung der Universität Mannheim geschlichen (ok, ich bin eher gehumpelt), die von Christian Wendelborn geleitet wird, diesmal zusammen mit Jochen Bojanowski und Helge Rückert (geleitet, nicht geschlichen):  »Der Analytische Marxismus und seine Kritiker«. Im ersten Teil des Blockseminars haben wir uns mit Texten von Gerald Allen Cohen – als (Haupt-)Vertreter des ›Analy­tical Marxism‹ – her­um­geschlagen und mit der Schrift eines seiner Gegner. Ein gewisser Jason Brennan hat ein Büchlein mit dem Titel Why not Capita­lism? (in Reaktion auf Cohens Essay Why not Socia­lism?) ver­öf­fent­licht, scheitert aber (absichtlich) an der Beantwortung dieser Frage. Obwohl (oder weil) Cohen sich in den ge­le­senen Tex­ten nicht als Marxist er­weist und – das sehen zwei der drei Seminarleiter auch so – sein Philoso­phiestil auch nicht der der analy­tischen Tradi­tion ist, hat sich das Seminar so weit als spannend und lebhaft er­wie­sen. Die drei echten Stu­dentinnen und der eine Student behaupten sich gut gegen drei Dozenten, einen Senioren­studenten und (als Gast) einen ehe­ma­li­gen Dozenten. Respekt!

Mein persönliches Interesse an der Veranstaltung ist nicht zuletzt ›to get my fair share of the views‹: Was den­ken mitteleuropäische Studenten und andere Leute, wenn sie (zum ersten Mal) mit diesem ameri­ka­ni­schen, moral­philo­so­phischen Neo- (oder Pseudo-)Marxismus konfrontiert werden. Bei einem der Teil­neh­mer konnte ich das, zugegeben, vorhersehen, einmal, weil ich ihn schon lange kenne, auch aus eige­nen Lehr­ver­an­stal­tun­gen, und zum anderen, weil er Wirtschaftswissenschaften studiert hat. Ökonomen haben be­kannt­lich zu Marx ein Verhältnis wie Psychologen vom Fach zu Sigmund Freud. Umso besser, dann wird man von ihnen immer wieder an die ganz offensichtlichen Irrtümer dieser (weißen alten) Män­ner er­in­nert, nicht wahr?

Besagter gelehrte Ökonom sagte sozusagen im Rahmenprogramm des Seminars mit Überzeugung unge­fähr Folgendes: ›Marx’ Werttheorie ist völlig falsch, im 19. Jahrhundert wusste man es halt nicht besser, Marx hat sie ja im Wesentlichen der Literatur sei­ner Zeit entnommen, was sollte er auch sonst machen, le pauvre Marx. Er hatte das Pech, der schon im An­satz völlig falschen Werttheorie von Adam Smith (sonst, besonders so­fern er den Markt lobt, ein guter Mann) zu folgen. Es gibt aber keine natür­li­chen Preise, der Preis (und Wert kann nichts an­de­res besagen) kommt beim Tausch zu­stande, nicht in der Produktion. Das ist Phlo­gis­ton-Theorie.‹ (Schön gesagt!)¹

Als Jochen Bojanowski im Seminar kurz ein paar Kernpunkte von Marx’ Lehre, darunter die Mehr­wert­theo­rie, skiz­zier­te, hat er als ausgewiesener Experte protestiert; Jochen hat daraufhin kon­zi­liant (er hat Re­spekt vor der Öko­nomie als Wissen­schaft) er­wähnt, dass die (bürger­lichen) Öko­­nomen den Gewinn des Kapi­ta­listen ja als Risikoprämie erklären (und in einem Aufwasch rechtfertigen). Man sah ein nach­drück­liches Nicken.
Schön, nehmen wir an, es sei eine Risikoprämie. Was könnte der Ausdruck be­sagen? Er hört sich nach Ver­sicherung an, also: Die Prämie soll den Kapitalisten vor dem Risiko sichern, sein Kapital zu ver­lie­ren, wenn er es investiert, also wagt. (In der Konkurrenzgesellschaft, in der seine Firma auf dem freien Markt agiert, kann jedes Unternehmen scheitern, ganz ohne Verschulden des Unternehmers.) Dem­nach wäre die Prämie so hoch, dass der Kapi­talist sich auf einem gedachten Versicherungsmarkt gegen das Risiko des Ka­pital­ver­lustes versichern könnte. Das würde wiederum bedeuten, dass – ver­nach­läs­sigt man die Ver­siche­rung und ihre Kos­ten –, die Kapitalisten insgesamt im Wirt­schafts­ge­sche­hen ihre Ka­pi­talien un­ver­sehrt, un­ver­mindert er­hal­ten, nicht weniger, aber auch nicht mehr, die Versicherung kann ja nur aus­glei­chen. Sähe es so nicht ziem­lich fair (um das große Wort ›gerecht‹ zu vermeiden) aus? Wenn das Unter­nehmen pleite macht, grün­det der Ka­pi­ta­list ein neues und die Arbeiter ver­wer­ten ihre (gegen Arbeits- und Berufs­un­fähig­keit hoffent­lich ver­sicherte) Arbeitskraft ander­wei­tig, über die re­lativen Ge­haltshöhen können wir uns ja immer noch streiten. (So stehen die Dinge natürlich nicht, aber dazu so­gleich.)
Vielleicht sagt ein bürgerlicher Ökonom nun: Naja, schon, aber das ist ja noch kein
Anreiz, das Kapital über­haupt einzusetzen, dann kann er es ja auch unter der Matra­tze lassen, weiter für einen anderen ar­beiten und sich um Wachstum und Ge­mein­wohl nicht scheren. O wie schade um die Gerechtigkeit, aber so ist der Mensch (vielleicht)! – Hm, betrachten wir die idyllischen Markt­verhältnisse, die ge­mein­hin ange­nom­men werden (und die es näherungsweise auch mal gibt), wenn das Wesen des Kapi­ta­lis­mus in rosi­gen Farben ge­malt wird, bereichert um die ›Kapital­lebens­ver­siche­rung‹: Mit dem Kapital, das er gegen das Risiko zu schei­tern versichert, kann der Ka­pi­talist ein Unternehmen gründen und seine Idee verwirklichen, die abstrakt dar­in besteht, seine Kunden mit bestimmten Gütern zu ver­sor­gen (man beachte hier den inhärenten Gemein­sinn!), die sie brauchen (haben wollen) und die sie von anderen je­den­falls nicht günstiger erwerben können, für die sie also be­reit sind, den er­war­teten Preis zu zahlen. Es ist seine Idee (nehmen wir an), es ist sein Ka­pi­tal, er ist der Chef (einen Chef muss es ge­ben, neh­men wir an). Er schafft sich also einen Arbeitsplatz und zahlt sich in seinem Unter­neh­men ein (völlig normales) Geschäfts­füh­rergehalt, der Gewinn deckt die Ver­si­che­rungs­prämie. Gar kein so schlech­ter Anreiz, würden die meisten Menschen sagen, denn das Kapital kann er ja nicht mehr ver­lieren.
Allein, die Verhältnisse, sie sind nicht so, sie sind viel schöner (für den Kapitalis­ten). Die Gesamtsumme des Kapitals bleibt sich nicht gleich, sie vermehrt sich (meistens und in the long run). Das macht, der Ka­pitalist muss, wenn sein Kapital nur groß genug ist (und dann erst nennt man ihn einen Kapitalis­ten), gar nicht selbst arbeiten – das Geschäfts­führer­ge­halt verliert seinen Reiz, er kann einen Ge­schäfts­führer einstellen und vom Gewinn leben. Im Allge­mei­nen und im typischen Fall verliert er sein Kapital nicht (und muss es nicht gegen dieses Risiko versichern, son­dern investiert es einfach breit gestreut), kann (vorsichtig gesagt) von den Er­trä­gen leben und das Ka­pital vermehrt sich immer noch.

So viel zum Ausdruck »Risikoprämie« (das sind jetzt hoch­ironische An­füh­rungs­zeichen).
Aber wir wollen nicht um Worte streiten, wer wird denn gleich neidisch werden, bloß weil der Ka­pi­ta­list ein bisschen mehr erhält als einen Risikoausgleich. Wir sind doch alle großzügig, sollten es wenigs­tens sein und uns am Glück des Neben­men­schen freuen, der eine gute Idee (oder geerbt) hatte. Aber, naja, ein wenig merk­würdig ist es ja schon, dass der Kapitalist qua talis nun leben kann, ohne zu ar­bei­ten, während die meisten anderen arbeiten müssen² (wenngleich sich heutzutage, dem Kapitalis­mus sei dank, dabei ja niemand mehr den Rücken krumm schuftet oder die Finger schmutzig macht, oder?) und netto dabei gar kein Risiko hat, sein Kapital wieder zu verlieren, vielleicht – doch irgendwie horri­bile dictu – wieder ar­beiten zu müssen. (Vom langen Nichtstun ist er am Ende faul und arbeitsunfähig geworden wie ein Hartz-IV-Empfänger und fällt dann wie dieser der Gemeinschaft zur Last – halt, das ist er ja vorher auch schon … ich verwirre mich.)
Ein Trost wenigstens, dass die Mehrwerttheorie nicht stimmt, dass der Kapitalist also, egal wie man es be­trachtet, den Arbeitern nichts wegnimmt, gell. Zwar, der Kapitalist lebt nicht vom Geld allein, son­dern muss das gegen Güter eintauschen. Güter, die andere mit ihrer Arbeit produziert haben (wenn sie schon nicht den Wert produziert haben, dann doch unbestreitbar die Güter, sofern sie nicht auf Bäu­men wach­sen, die in des Kapitalisten Garten stehen – und dieser keinen Gärtner hat.) Der große Hau­fen der Gesamt­güter wird also verteilt: Der größte Teil (wirk­lich) geht an die vielen, vielen Arbeiter (die übrigens zu viel essen und zum Über­­gewicht neigen und auch noch Zigaretten und Bier brauchen) und ein kleiner, wenn­gleich nicht im engs­ten Sinn beschei­dener Teil geht an die Kapi­ta­lis­ten (die ja auch Geschmack haben und die besseren Anzüge tragen und überhaupt Hand­werk und Künste er­mu­ti­gen). Den kaufen die Ka­pita­listen mit dem Teil der Ka­pi­tal­er­träge, den sie
nicht brauchen, um sich gegen Ka­pi­tal­ver­lust ab­zu­sichern (sie sind ja nicht dämlich). Und so leben sie alle Tage.

Man könnte also sagen, dass sie von dem leben, was die Arbeiter über das hinaus produzieren, was die Ar­bei­ter selbst verbrauchen und was zur Produktion notwendig ist. (Man braucht keine Video­über­wa­chung, um sich zu vergewissern, dass es Kapitalisten gibt, man nannte die mal recht hübsch Coupon­schnei­­der, die wirk­lich nur konsu­mieren, nichts produzieren, zur Produktion rein gar nichts beitragen außer ihrem feuerfesten Kapital, oder meinetwegen sogar bloß, dass es die geben kann.) Was man nicht sagen kann (darf) ist, dass die Arbeiter die Werte schaffen, die sie benö­tigen (dafür haben sie ihren Lohn erhalten) und die zur Re­pro­duk­tion des ganzen Apparats benötigt werden, und darüber hinaus die Werte, die die Kapitalisten als solche ohne Gegenleistung erhalten. Das ist nämlich falsch, weil in der Pro­duktion kein Wert ent­steht.³ In Tausch und Han­del aber gibt es kein Problem: Der Ka­pi­ta­list zahlt ja.⁴ Pünkt­lich und bar / mit goldener Kreditkarte. QED


1 Sogar weil Marx selbst sich über die Theorien, die die Entstehung des Profits in der Warenzirkulation vermuten, mit den Worten lustig macht: »…, da alle Argumente dieser Art, der Sache nach, unfehlbar auf das seinerzeit vielberühmte negative Gewicht des Phlogiston hin­auslaufen.« (Das Kapital, Dritter Band, Berlin: Dietz 1964 [MEW 25], S. 49)

2 Robert Nozick belehrt uns, dass sie dazu aber nicht von den Kapitalisten gezwungen werden. Sei’s drum.

3 Letzteres ist vorläufig nicht meine Meinung (wie der Leser hof­fent­lich gemerkt hat). Nach­dem ich das ge­schrie­ben hatte, habe ich er­fah­ren, dass G. A. Cohen im 11. Kapitel von History, Labour, and Freedom (Oxford 1988) dafür argu­men­tiert, die Ar­beits­wert­theo­rie kom­plett fallen­zu­las­sen und die Be­haup­tung, dass die lohn­ab­hän­gi­gen Ar­beiter aus­ge­beutet werden, nur über die An­eig­nung eines Teils ihrer Pro­dukte (nicht eines imaginären Mehr­werts) durch die Kapital­eigner zu begründen. Cohen muss auch nicht der Erste gewesen sein, der so etwas gesagt hat, aber er war deutlich vor mir dran. – Die er­wähn­ten Mit­strei­ter und ich haben uns vor­ge­nom­men, Cohens Ar­gu­men­ta­tion ge­nauer zu stu­die­ren, sobald wir dazu Zeit finden. (13.6.20)

4 Wenn er nicht gerade ein notorischer Bankrotteur ist wie der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten.

20. Februar 2020

Hanau

Mein Elternhaus liegt etwa zwölf­ein­halb Kilo­meter vom Hanauer Heu­markt ent­fernt in einer baye­ri­schen Nach­bar­stadt. Hanau war die Resi­denz­stadt eines reichs­un­mit­tel­ba­ren kleinen Terri­to­riums, die Land­grafen holten Ende des 16. Jahr­hun­derts calvi­nis­tische Flücht­linge, kennt­nis­reiche, in moder­nen Pro­duk­tions­metho­den be­wan­derte Hand­werker, aus Frank­reich und den habs­burgi­schen Nie­der­lan­den in die Stadt, es ent­stand eine Neu­stadt als ba­rocke Plan­stadt nach den Vor­stel­lungen der Ein­wan­de­rer. Das Ge­werbe und die Stadt ins­gesamt blühten auf. Über zwei­hun­dert Jahre lang war die Neu­stadt eine selb­stän­dige Ge­meinde, viel Inte­grations­druck gab es offen­sichtlich nicht, es ging auch so. Ab 1604 gab es sogar wieder eine jü­dische Ge­meinde in Hanau, auch die Juden hatte der Landes­herr an­ge­siedelt (so steht es in den guten Wiki­pedia-Artikeln zum Ort und seiner Ge­schich­te).

Bis zum Krieg war nicht nur die inter­essan­te Struk­tur der Doppel­stadt inner­halb der Fes­tungs­an­lagen, sondern auch reich­lich alte Bau­sub­stanz erhalten. Nach dem Krieg ist das, was die Bom­barde­ments übrig ge­lassen hatten (acht­zig Prozent der Stadt waren zerstört – meine Mutter hat als Kind den nächt­lichen Feuer­schein gesehen, als Hanau brannte), zum aller­größ­ten Teil ab­ge­rissen worden. (Schloss Phi­lipps­ruhe, eine hübsche spät­ba­rocke An­lage am Main, hat es über­standen, der zuge­hö­rige Stadt­teil Kessel­stadt im­mer­hin besser als das Zentrum.) Eine jü­dische Ge­meinde gab es nicht mehr, die letz­ten Juden, die nicht mit einem ›Arier‹¹ ver­hei­ratet waren, waren 1942 in die Ver­nich­tungs­lager de­por­tiert worden. Die tau­sen­den ›Fremd­arbeiter‹, die die Nazis in die Stadt gezwungen hatten, waren wieder verschwunden. Hanau war nun alles andere als eine schöne Stadt, aber immer noch günstig ge­legen, neuer­dings auch strate­gisch, so dass sie zum größten ame­ri­ka­ni­schen Stütz­punkt in Deutsch­land wurde. Man sah sogar außer­halb der großen Kaser­nen­anlagen oft ameri­ka­nische Sol­da­ten, auch viele schwarze, die ein­zigen schwar­zen Men­schen, die ich in meiner Kind­heit zu Gesicht bekommen habe.

Hanau war vor und nach dem Krieg nicht nur eine Gar­ni­sons­stadt, sondern auch ein be­deu­ten­der In­dus­trie­stand­ort. Aus meinem Heimat­ort und der Um­ge­bung fuhren viele Ar­beiter mit Linien- und Werks­bus­sen zu ihren Schich­ten in die Hanauer Fa­bri­ken. Seit den sech­ziger Jahren waren immer mehr neue Ein­wan­derer dar­unter, viele aus der Türkei, auch viele Kurden. Nach der Re­li­gion hat damals nie­mand ge­fragt, schon gar nicht der Ar­beit­geber. Es kam bloß dar­auf an, dass Staub, Hitze, Lärm, Gestank, Mono­tonie und Nacht­arbeit min­des­tens vier­zig Stunden in der Woche er­tra­gen werden konnten, jahr­ein, jahr­aus. Zähe Leute wurden ge­braucht, konnten jeden­falls ge­braucht werden, ganz ohne Spe­zial­kennt­nisse und beson­dere Fertig­keiten, viele davon. Ein eigenes hübsches neues Stadt­viertel mit allem zeit­gemäßen Kom­fort nur für die Im­mi­gran­ten gab’s diesmal nicht – die ›Gast­ar­beiter‹ sollten ja nicht bleiben und hatten einzeln keine Ver­hand­lungs­masse –, Neu­bau­sied­lungen schon.

Hanau ist eigentlich nichts besonderes, eher eine ziem­lich ty­pische (west-)deutsche Stadt, viel hat sie auch mit grö­ßeren Städten ge­mein. Was in Hanau passiert, kann auch in Gießen geschehen, in Kassel, in Heil­bronn oder, sagen wir, Mann­heim.

Wahn­sin­nige gibt es auch überall, ob mit oder ohne Jagd­schein. Zum Beispiel solche, die von einer ›Um­vol­kung‹ schwa­dro­nie­ren, damit sogar Wäh­ler­stimmen gewinnen wollen (und ge­win­nen). Mal zeigen diese Leute auf Bür­ger­kriegs­flücht­linge, mal auf Afri­kaner, die ihr Glück in Europa ver­suchen wollen. Mit­ge­meint sind immer die ›Frem­den‹, die schon lange da sind. »Der große Aus­tausch geht weiter«, die von Poli­tikern angeblich ge­plante Er­setzung der Ein­geborenen, naja, der Nach­fah­ren der Leute, die das Land nach dem Krieg wieder­auf­gebaut haben, bevor die ›Gast­ar­beiter ge­kommen‹ sind, der ari­schen Be­völ­ke­rung halt, durch Ein­wan­de­rer, also durch solche, die diesen Leuten nicht passen.

Es reicht diesen Leuten nicht zu kon­sta­tie­ren, eine solche Er­setzung finde statt: Da wäre der Ein­wand, dass die ›Volks­deutschen‹ doch vor­läufig nicht ver­schwin­den, zu nahe­lie­gend; nein, es muss sich um einen schur­ki­schen Plan han­deln, der noch ver­eitelt werden kann, wenn man die Schur­ken – die kann man sich im Ein­zel­nen noch aus­suchen, Merkel gehört sicher dazu – hinter Gitter bringt, so der Traum eines ge­wis­sen Herrn Klos (zu ihm so­gleich), oder auf­hängt, so der Pegida-Vor­schlag. (Beim letz­ten Mal hieß es, ›Köpfe werden rollen‹, aber Fall­beil und Schafott scheinen aus der Mode ge­kommen zu sein.)

Das meint unter an­deren der demo­kratisch ge­wählte Land­tags­ab­ge­ord­nete für den Wahl­bezirk Mann­heim Nord (in dem ich wohne), Rüdiger Klos (man kann es auf seiner Home­page nach­lesen, ver­linken werde ich die nicht). »Jeder weiß, so kann und darf es nicht weiter­gehen. Wir sind nicht wil­lens – weil dies zum Zu­sam­men­bruch un­se­rer Nation in wirt­schaft­licher und kul­tu­reller Hin­sicht führen würde –, ge­schweige denn fähig [naja, ›wir‹ wollen ja schon nicht, da kommts aufs Können nicht mehr an], das Ar­muts­problem auf die­sem Pla­ne­ten zu lösen. [›Wir‹ haben näm­lich bes­se­res zu tun:] Deutsch­land muss seine Iden­tität be­wahren.« (›Wir‹ sind die, denen das Land zwar nicht ge­hört, die aber wenigs­tens qua Her­kunft, die ›uns‹ keiner neh­men kann – wo hab’ ich denn den Arier­nach­weis vom SA-Groß­onkel –, einen An­spruch an einem Anteil an seinen Reich­tü­mern geltend machen, wenn ›wir‹ sonst schon keinen haben, ›wir‹ armen Tröpfe.) Klos ruft nicht zum be­­waff­­neten Wider­­stand auf, das wäre als Volks­ver­hetzung straf­bar. Er will auch wirklich nicht, dass seine Wähler erst die Waffe und dann die Sache des teutschen Volkes selbst in die Hand neh­men und die Gäste in der nächsten Shisha-Bar er­schie­ßen. Er will (wieder-)ge­wählt werden, allen Ernstes. Er glaubt nur oder will glauben machen (ich glaube, er glaubt es), dass die Lage ernst ist, dass der »Zu­sam­men­bruch« droht, dass es »so« nicht wei­ter­gehen kann und darf, er sagt’s ja, es muss etwas ge­schehen. Die Identität, die es zu wahren gilt, hat mit Türken, Kurden und anderen ›Süd­ländern‹ nichts zu tun, this goes with­out saying. Dass an­ge­sichts der gro­ßen Ge­fahr nicht alle seine Wähler das Ver­trau­en haben, unser Land­tags­ab­ge­ord­ne­ter und seine Fraktion würden es im Par­la­ment schon richten, darf man vermuten. Aber so kann es doch nicht weiter­gehen …

Herr Klos, Herr Höcke und ihre Mit­keifer, egal ob sie zum Flügel, zur Keule oder zum Bürzel gehören wol­len, teilen den rassis­tischen Dach­schaden des Mör­ders von Hanau.² Der Wähler sollte sich an den Kopf grei­fen. Diese Leute sind umso gefähr­licher, je gefähr­licher man sie werden lässt, sonst nicht. Zwar, der Mann in Hanau war nicht nur an Ras­sis­mus er­krankt und hat sich schließ­lich selbst um­gebracht, auch nicht als erster von denen. Besser aber man ent­waffnet sie vorher, der Scha­den kann sonst aus­ge­dehnt sein.


Übrigens: Haben wir eigent­lich einen zweiten³ Ver­fas­sungs­zu­satz? Oder welchen beson­ders ge­schütz­ten Grund­wert pfle­gen Sport­schützen in ihren gewiss teils alt­deutsch folk­loris­tisch-ge­müt­lichen Ver­einen (es gibt neuer­dings sogar welche mit Schützen­köni­gen mit ›Mi­gra­tions­hinter­grund‹, zugegeben)? Natür­lich kann man nie­man­dem ver­bieten, auf Karton- oder Stroh­­scheiben zu schießen. Das geht auch mit Pfeil und Bogen und für mus­kel­schwa­che Leute mit dem Luft­gewehr. Auch mit solchem Gerät muss man vor­sichtig umgehen, wie mit Messer, Scher’ und Licht, aber man kann damit nicht in einer Stunde neun Leute um­bringen. Man kann die rassis­tisch Ver­rück­ten am ein­fachs­ten ent­waff­nen, indem man alle ent­waff­net. Der Bürger braucht kein Schieß­ge­wehr.


1 So wenig wie ›Rasse‹ (bezogen auf Men­schen) hat der Pseu­do­be­griff ›arisch‹ einen Sinn. Ich gehe eigent­lich davon aus, dass den Be­su­chern dieser Seite der­glei­chen völlig klar ist. Aber wenn man diese Spra­che öf­fent­lich zi­tiert, soll­te man vor­sichtig sein. Man kann sich na­tür­lich auch über den Ras­sis­mus lustig machen kann … es ist aller­dings nicht leicht, sich so aus­zu­drü­cken, dass jeder merkt, dass es Un­fug ist (vgl. Walther Darré, »Das Schwein als Kri­te­rium für nor­di­sche Völ­ker und Se­mi­ten«, Mün­chen: Leh­mann 1933).

2 »Auf die Frage, ob es einen Zusammen­hang etwa von Äuße­rungen aus der AfD-Bun­des­tags­frak­tion mit der Tat in Hanau gebe, sagte Gau­land vor Jour­nalisten: ›Das hat bestimmt nichts mit Bundes­tags­reden zu tun.‹« (https://www.tagesschau.de/newsticker/hanau-ermittlungen-101.html#Steinmeier-in-Hanau-eingetroffen, 20.2.2020, 17:24 Uhr) Achso, na denn muss ick irjend­wat falsch ver­standen hamn, ent­schul­dijen Se vielmals.

3 Ursprünglich hatte ich irrtümlich »fünften« geschrieben, das ist aber der mit dem Zeug­nis­ver­wei­ge­rungs­recht (und anderen wichtigen Rechten), der in der McCarthy-Zeit auch eine phan­tasie­volle Aus­legung erfahren hat und bei den üblichen »Deals« mit dem Staats­an­walt reihen­weise falsche Ge­ständ­nisse nicht ver­hin­dert. Der zweite Zusatz lautet: »A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.« Das wird heute einerseits als natur­recht­licher Grund­satz auf­ge­fasst (schon die Autoren der eng­lischen Bill of Rights hätten besser auf Hobbes hören sollen; je stärker und häu­fi­ger Richter sich auf an­geb­liches Na­tur­­recht stützen, desto mehr machen sie Politik und schöpfen Ver­fas­sungs­recht …), andererseits ist die Bin­dung an eine ›wohl re­gu­lierte Miliz‹ so ziem­lich ver­dampft, eben­so wie jede Be­schrän­kung auf Waffen, die für eine Miliz geeignet wären. [Wenn man nur woll­te, könnte man auch so klug sein, aus einer Bestim­mung, die dem Volk erlaubt, Waffen zu besitzen und zu tragen, fürs In­divi­duum so viel lieber nicht ab­zu­leiten. Wenn man wollte, könnte man den Verfassungsartikel zwanglos so verstehen, dass das massenhafte Sterben an der ame­ri­ka­ni­schen Waffenpest ver­hütet würde. Man muss den Autoren der (in vielen Teilen schlecht gealterten) Ver­­fas­sung und der Bill of Rights der Ver­einig­ten Staaten nicht unter­stellen, dass sie die 300 Millionen modernen Schuss­waffen (die halt viel tödlicher sind als die Vor­der­lader mit Stein­schlös­sern von anno 1791) in den Hän­den und Schränken der Ameri­kaner mit allen Kon­sequenzen wollten und bil­lig­ten. Aber wenn man guten Willen und Ver­stand hätte, könnte man gleich das unsinnige ›Grund­recht‹, dessen Ge­wäh­rung auf fal­schen An­nah­men beruht, streichen. Wenn …] Wie dem auch sei, mit einer solchen anti­quier­ten Ver­fas­sungs­be­stim­mung müssen wir uns nicht herum­schlagen.

19. September 2018

Seit langer Zeit zum ersten Mal besuche ich in diesem Herbstsemester wieder ein Seminar als (in­offi­zieller) Student oder gemeiner Seminarteilnehmer, nämlich Christian Wendelborns »Klassische und neuere Theorien der Entfremdung: Marx, Jaeggi, Rosa« (Universität Mannheim). Diesen Montag hat sich in der zweiten Sitzung schon eine intensive Diskussion über den Ent­frem­dungs­begriff entwickelt, ausgehend vom SEP-Artikel »alienation« von David Leopold. Zwei Punkte von Leopolds Versuch, einen möglichst schlanken Kernbegriff von Entfremdung auszuweisen, haben sich dabei als schwierig er­wiesen: Erstens haben wir uns gefragt, ob seine Quasi-Definition der »basic idea of alienation« nicht redundant ist. Zweitens hat Christian vorgeführt, dass Leopolds Unter­scheidung von »subjective« und »objective alienation« so nicht haltbar ist. Das wiederum hat Kon­se­quenzen für seine Darstellung von Typen philo­sophischer Ent­fremdungs­theorien, namentlich für die Behauptung, Hegel vertrete die Auf­fassung, in seiner Gegen­wart gebe es ausschließlich »subjektive Entfremdung«.

In der Redundanz­frage war am Ende der Sitzung scheinbar der Konsens erreicht, dass Leopolds Basis­for­mu­lie­rung nicht redundant sei (s. dazu unten die erste Notiz).

Für seine These zu Hegel hat Leopold keine direkten Beleg­stellen angegeben, und ich habe mich ge­fragt, auf welche Aussagen er eigentlich zielt  (s. dazu unten die zweite Notiz).

Um diesen Dingen halbwegs auf den Grund zu gehen, habe ich recht umfangreiche Notizen ange­fertigt – die möglicherweise anderen Seminarteilnehmern oder sonst­wem nützlich sind. Also präsen­tiere ich sie hier, in all ihrer seminar­situa­tions- und funk­tions­bedingten Vorläufigkeit. Sie sind auf der Seite »Un­pro­fes­sionelles« am Besten aufgehoben, weil es zwar um Fachlich-Philosophisches im engs­ten Sinne geht, ich aber nicht ver­sucht habe, den Standards für eine Veröf­fent­lichung auch nur nahe­zukommen. Speziell die Hegel-Notiz ist ganz gewiss nicht das letzte Wort in dieser Sache, vermutlich auch noch nicht von meiner Seite. – But now without further ado …


Erste Notiz: Ist Leopolds Basisdefinition von Entfremdung insofern redundant, als man das Wort ‚pro­ble­matisch‘ darin streichen könnte?

Leopold drückt die „basic idea of alienation“ in
Leopold 2018 1.1 so aus: „the problematic separation of a sub­ject and object that properly belong together“. Ich werde mich im Folgenden auf eine deutsche Ent­spre­chung beziehen, die ich wie folgt formuliere: „die problematische Trennung eines Subjekts von einem Objekt, die eigentlich zusammengehören“.¹ [Anmerkungen direkt hinter der »Notiz«]


Es wurde zur Diskussion gestellt, dass jede Trennung eines Subjekts von einem Objekt, die etwas be­trifft, was eigentlich zusammengehört, qua talis problematisch ist. Demnach wäre das Wort ‚proble­matisch‘ in der De­fini­tion überflüssig (oder hätte allenfalls eine explikative, betonende Funktion). – Das würde nicht aus­schlie­ßen, dass es Erscheinungsformen von Entfremdung gibt, die über die Tren­nung des Zusammen­gehörigen hin­aus (aus weiteren Gründen) problematisch sind, aber das spielt hier keine Rolle.

Leopolds Text legt mindestens nahe, dass er selbst den Ausdruck ‚problematisch‘ für nicht unbedingt erfor­derlich hält. Das Beispiel für eine nicht-problematische Trennung, die also kein Fall von Ent­frem­dung ist (das der spanischen Architektin, die gegenüber den verfassungs­rechtlichen Problemen der Beziehungen von Niue und Neuseeland gleichgültig ist), ist eines, in dem nichts getrennt ist, was zu­sam­men­­gehört (die Architektin muss oder soll sich für diese Probleme nicht interessieren).

Weiter schreibt er: „The suggestion here is that to be appropriately problematic—[…]—the separations have to obtain between a subject and object that properly belong together […].“ Das Problematische der Trennung geht demnach mit der Trennung von eigentlich Zusammengehörigem einher. Wenn Leopold dann ‚präzi­siert‘, „that the candidate separations have to frustrate or conflict with the proper harmony or connectedness between that subject and object“, erläutert er damit, wenigstens prima facie, nur ‚separa­tion of what proper­ly belongs together‘. In einer weiteren Formulierung scheint er dann aber mehr als nur diese Trennung zu verlangen: „Alienation obtains when a separation between a subject and object that properly belong to­gether, frustrates or conflicts with that baseline connected­ness or harmony.“ Dieser Formulierung nach er­scheint es möglich, dass die Trennung des eigentlich Zusammengehörigen allein noch nicht mit der zugrunde­liegenden Verbindung oder Harmonie kon­fli­giert. Allerdings muss man das nur aussprechen, um zu sehen, dass es nur die Formulierung ist (‚when a separation … frustrates …‘), die diese Interpretation für einen Mo­ment suggerieren könnte. Sachlich ist es kaum denkbar, dass eine Tren­nung des Zusammen­gehörigen nicht mit der Verbindung des Zusammengehörigen konfligiert. So spricht Leopold auch im Folgenden: „To say that they properly belong together is to suggest that the harmonious or connected relation between the sub­ject and object is rational, natural, or good.“ –
Zwischenfazit 1: Leopold verwendet ‚problematisch‘ in seiner Basis­defi­nition nur, um zu betonen, dass Entfremdung die Trennung von eigentlich Zu­sam­men­ge­höri­gem vor­aus­­setzt. Das Wort markiert für ihn kein zusätzliches Merkmal von Entfremdung.

Das dürfte sich auch zwanglos für einen kompetenten Sprecher des Deutschen ergeben, dem man die Frage vorlegt, ob eine Trennung von einem Subjekt und einem Objekt, die eigentlich zusammen­ge­hören, proble­matisch ist. Trotz der Schwierigkeit, die Bedeutung von ‚problematisch‘ hinreichend klar zu er­fas­sen, wird er zu der Antwort neigen: „Irgendwie wird diese Trennung für das Subjekt schon proble­matisch sein, wenn es mit dem Objekt eigentlich zusammen­gehört.“

Christian hat mich (20.9.) darauf aufmerksam gemacht, dass damit die Interpre­tations­frage offen­sichtlich nicht ent­schie­den ist: Entdeckt der Interpret eine gewisse Redun­danz, müsste er nach dem Prinzip der her­me­neu­ti­schen Billig­keit nach einer Lesart suchen, die diesen Fehler nicht aufweist. Er wird also min­des­tens ver­muten, dass Leopold mit dem in ge­wis­ser Weise zusätz­lichen „proble­matisch“ nicht eine weitere, andere Proble­matik ge­meint haben müsste. Nur im Lichte von Leopolds oben zitier­ten weiteren Aus­sagen wird er zu dem Schluss kommen, dass Leopold „proble­matisch“ wahr­schein­lich bloß zur Betonung ver­wendet. – Jedenfalls kann immer noch gefragt werden, ob man die For­mu­lierung, wie sie ist, nicht besser als nicht-redundant verstehen sollte.


Im Seminar war aber von Teilnehmern² anhand von Beispielen dargelegt worden, dass es Trennungen von Subjekt und Objekt, die eigentlich zusammen­gehören gebe, die aber nicht problematisch sind und die inso­fern und daher auch nicht als Entfremdung bezeichnet werden sollten.

Ich vermute, dass einerseits in den besten Beispielen zu viele Kandidaten für Entfremdung im Spiel sind (die dann leicht konfundiert werden bzw. sich semantisch gegenseitig beeinflussen) und dass andererseits die Tatsache, dass es gerechtfertigte Entfremdung gibt, hier noch übersehen wurde. Das schon in der Sitzung entwickelte und diskutierte Beispiel des miss­brauch­ten Kindes³ ist aber auch ge­eignet zu zeigen, dass es sich in der Tat so verhält. Fixieren wir es so:

Ein Vater missbraucht⁴ anhaltend sein kleines, von ihm noch abhängiges Kind. Die Bezie­hungen des Kindes zur übrigen Familie, zu seiner Mutter, seinen Geschwis­tern, den Groß­eltern usw., sind, soweit erkenn­bar, intakt. Das Jugend­amt erfährt von dem Miss­brauch, nimmt das Kind in Obhut und ent­fernt es aus der Familie, um den Miss­brauch zu beenden.


Es wurde nun darauf hingewiesen, dass die Trennung des Kindes von der Familie zwar als eine Tren­nung von etwas, das zusammen­gehört, beschrieben werden kann (es handelt sich eben nicht nur um die Tren­nung vom Vater, die nur noch mit Mühe so charakterisiert werden könnte), dass sie aber ein­deutig zum Wohl des Kindes beiträgt und insofern nicht proble­matisch sei. Genau deshalb solle man auch nicht von Ent­fremdung (des Kindes von der Familie) sprechen. Ent­fremdung liege eben nur vor, wenn die Trennung noch ander­wei­tig problematisch ist.

Diese Inter­pretation scheint mir nicht die beste zu sein.
Soweit das Kind eine intakte, auf typische Weise enge und gute Beziehung zu mehreren Familien­­mit­­gliedern hat, ist die Trennung des Kindes von der Familie offen­bar proble­matisch: Sie beraubt das Kind dieser förder­lichen, stützenden usw. Inter­aktionen. Das Jugendamt muss entsprechend abwägen, ob die Trennung gerecht­fertigt ist. Letz­teres mag zwar in eindeutigen Fällen ganz klar sein, man kann aber leicht das Gedanken­experiment eines (stark) gesunkenen weiteren Miss­­brauchs­­­risikos machen (o.ä.), um zu erkennen, dass eine Ab­wägung als solche erforderlich ist.⁵

Von hier aus kann man auch noch den darin steckenden Fall der Trennung vom Vater in mehreren Schich­ten betrachten: Mindestens ein Teilnehmer hat darauf aufmerksam gemacht, dass doch schon eine nicht-räum­liche, nämlich emo­tionale Trennung des Kindes vom Vater vorliegen müsse. Auch hier kann dann gefragt werden, ob diese mutmaßliche gefühls­mäßige Abkapselung des Kindes eine Trennung von Zusammen­ge­hö­ri­gem, ob sie problematisch und ob sie ein Fall von Entfremdung ist. Mir scheint eine Fall­unter­scheidung er­for­derlich zu sein: Sprechen wir von der konkreten Beziehung des Kindes zu diesem Mann, der sein Vater ist, oder sprechen wir von der Beziehung, die ein Kind wie dieses zu seinem Vater haben sollte? Im ersten Fall gehört hier nichts mehr zusammen und schon da­her kann die Abkapselung des Kindes keine Entfremdung sein (sondern stellt eine Leistung des Kindes dar). Im anderen Fall gehören Vater und Kind durchaus zu­sam­men, wir stellen darauf ab, dass mit der Abkapselung ein Verzicht auf väterliche Zuneigung einhergeht, auf die das Kind Anspruch hätte … beschreiben den Fall also als Tren­nung von Zusammen­gehörigem und können dann sofort von Ent­fremdung sprechen (die eben wegen des angesprochenen Verlusts für das Kind proble­matisch ist).⁶ –
Zwischenfazit 2: Auch das ‚Beispiel des miss­brauchten Kindes‘ erlaubt zwanglos eine Inter­pretation, wonach dabei eine (im fraglichen Sinn) proble­matische Trennung von Subjekt und Objekt vorliegt, weil und nur weil Subjekt und Objekt getrennt werden, obwohl sie eigentlich zusammengehören. Und eben dadurch ist das ein Fall von Entfremdung gemäß Leopolds ‚Grundidee‘ (obgleich ein gerecht­fer­tigter).

Wir haben im weiteren Verlauf der Sitzung gesehen, dass es Entfremdungen gibt, die ‚all things con­sidered‘ richtig sind, in Kauf genommen werden sollten usw., obwohl sie pro tanto (qua Entfremdung) ungut sind (um zur Abwechslung nicht ‚problematisch‘ zu sagen). Ich denke, dass es dem Sprach­ge­brauch entspricht (und dass eine Beschreibung dieses Sprachgebrauchs ausreicht, um einen Kern eines sozial­philo­sophisch an­wend­baren Entfremdungsbegriffs herauszuschälen), wenn man immer dann Ent­frem­dung konstatiert, wenn eine Trennung von einem Subjekt und einem Objekt, die eigent­lich zusammen­gehören, vorliegt (zusammen mit anderen evtl. erforderlichen Merkmalen, die nicht den evaluativen Aspekt der Zu­schrei­bung betreffen), und wenn man ‚alles in allem doch akzep­table‘ Fälle von Ent­frem­dung einräumt, die das Resultat von Ab­wä­gun­gen mit
anderen Wünsch­bar­kei­ten (wie Gerech­tig­keit, körper­liche Un­ver­sehrt­­heit, noch schlimmere Ent­frem­dung …) sind.


1 An dieser Definition ist, vor allem wenn man sie als Definition in einem technischen Sinn verstehen wollte (was Leopold nicht vor­schlägt), vielleicht noch mehr problematisch als das ‚problematisch‘. Das thematisiere ich nicht. Vielleicht ist das originale ‚properly‘ schon tau­to­lo­gisch oder zu vieldeutig usw. Das sollte für die Diskussion um die in Rede stehende Tautologie keine Rolle spielen.

(12.7.20:) Nebenbei gesagt: Das Wort ‚proble­ma­tisch‘ scheint mir in journa­listi­schen und philo­so­phi­schen Texten viel zu häufig vor­zu­kom­men. Seine Bedeutung ist oft schwer aus­zu­machen. Viele Autoren be­zeich­nen etwas als pro­ble­ma­tisch, um es als mora­lisch anrüchig, frag­würdig, eigentlich mehr als frag­würdig (denn was heißt das nun wieder?), prak­tisch schon irgendwie ver­werf­lich zu mar­kie­ren – und diese Wer­tung nicht be­gründen zu müssen. Diese Praxis ist … schlecht, ich möchte sie als die Übung kenn­zeichnen, mit Schmutz zu werfen, von dem man hofft, dass er hängen bleibt, ohne sich die Finger schmutzig machen zu wollen. Man sollte dieser Praxis nicht folgen und den Aus­druck sparsam, im Zweifel lieber nicht ver­wenden. (Es lohnt sich viel­leicht, wenn ich mich darüber einmal aus­führ­licher aus­lasse.)

2 An der Diskussion haben sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer beteiligt; ich habe mir nicht gemerkt, wer genau was gesagt hat, kann insofern nicht jeweils das korrekte Genus verwenden und gebrauche bloß der Kürze halber das männliche der grammatischen Grund­form.
3 Ohnehin gewiss kein typisches Beispiel für E. als sozialphilosophisches Phänomen, aber ein gut gewähltes Beispiel, um Eigenheiten von Leopolds weiter Basisdefinition zu beleuchten.
4 Obwohl es für das semantische Funktionieren des Beispiels keine Rolle spielt, hilft es wahrscheinlich, wenn man hier nicht (aus­schließ­lich) an krasse und schreckliche Formen von Missbrauch denkt, sondern eine große Bandbreite vor Augen hat.
5 Man sieht auch leicht, dass das Jugendamt die Entfernung des Kindes aus der Familie gegen die Entfernung des Vaters aus selbiger ab­wä­gen müsste, eben aus dem Motiv heraus, dem Kind die Familie zu erhalten.
6 Ich erhebe natürlich keinen Anspruch darauf, Kindesmissbrauch psychologisch usw. angemessen erfasst zu haben. (Ein Nachteil des Bei­spiels ist es, dass man dazu neigt, diesen Anspruch an jemanden, der es intensiv verwendet, zu stellen.) Es geht nur um semantisch mög­liche Unterscheidungen. Welcher konkretere Ent­frem­dungs­be­griff dann in einer speziellen (familien­­thera­peu­­tischen, sozial­psycho­logischen, pädiatrischen, …) Theorie zweckmäßig wäre, lässt sich von hier aus noch nicht entscheiden.

Zweite Notiz: Hegel über Entfremdung in den angegebenen Paragraphen der »Rechtsphilosophie«


Leopold verweist auf drei Paragraphen der Grundlinien der Philosophie des Rechts, nämlich § 4A, § 187A, and § 258A, nicht eigentlich, um zu behaupten, dass sich dort wesentliche Aussagen Hegels zu dessen Ent­frem­dungs­­theorie fänden, sondern um Belege für den Gebrauch des Ausdrucks „zu Hause“ anzuführen. Im Kon­text (s. 4.1) sagt er damit auch, dass Hegel so auf ‚subjektive‘ E.,¹ wie Leopold sie versteht, referiere. Da er aber für seine philosophiehistorisch gravierende Behauptung, Hegel erkenne in der ‚modernen‘ Gesellschaft (seiner Zeit) keine objektive Entfremdung, keine anderen Hegel-Stellen anführt (er beruft sich nur auf Hardimon 1994), gleichwohl den Ausdruck ‚zu-Hause-Sein‘ aufgreift (die Individuen könnten, objektiv be­trach­tet, in Staat und Gesell­schaft zu Hause sein – so stellt Leopold Hegels Auffassung dar), ist man auf­ge­for­dert, sich aus den ange­gebenen Stellen zusammenzureimen, was Hegel meinen könnte oder was bei Hegel Leopold meinen könnte.

Da die angegebenen Passagen („A“ bezeichnet „Anmerkungen“ zu den drei Paragraphen der
Rechts­philo­sophie) ziemlich lang sind, muss man zunächst Stellen heraussuchen, die dieses zu-Hause-Sein überhaupt the­matisieren. Ich habe folgende Passagen gefunden, isoliere sie und gehe bloß von diesen aus.


Einleitung, § 4, Zusatz²: „Ich ist in der Welt zu Hause, wenn es sie kennt, noch mehr, wenn es sie be­grif­fen hat.“ (Hegel 1986a, S. 47)


Dritter Teil: Die Sittlichkeit, Zweiter Abschnitt: Die bürgerliche Gesellschaft, § 187 : „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben. Da dieser durch das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als Mittel erscheint, so kann er von ihnen nur erreicht werden, insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise be­stim­men und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen.“ An­mer­kung: „Es hängt mit den Vor­stel­lungen von der Unschuld des Naturzustandes, von Sinnen­einfalt ungebildeter Völker einer­seits und andererseits mit dem Sinne, der die Bedürfnisse, deren Be­frie­di­gung, die Genüsse und Be­­quem­­lich­­keiten des partikularen Lebens usf. als ab­so­lu­te Zwecke betrachtet, zusammen, wenn die Bildung dort als etwas nur Äußerliches, dem Verderben An­ge­hö­riges, hier als bloßes Mittel für jene Zwecke betrachtet wird; die eine wie die andere Ansicht zeigt die Un­be­kannt­­­schaft mit der Natur des Geistes und dem Zwecke der Vernunft. Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst ent­zweit, in den Natur­bedürfnissen und in dem Zusammen­­hange dieser äußern Not­wendig­keit sich diese Schranke und Endlichkeit gibt und eben damit, daß er sich in sie hinein­bil­det, sie überwindet und darin sein objektives Dasein gewinnt. Der Vernunft­­zweck ist deswegen weder jene natürliche Sitten­einfalt noch in der Ent­wicklung der Besonderheit die Genüsse als solche, die durch die Bildung erlangt werden, sondern daß die Natureinfalt, d.i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Roheit des Wissens und Willens, d.i. die Unmittelbarkeit und Einzelheit, in die der Geist versenkt ist, weg­­gear­beitet werde und zunächst diese seine Äußerlichkeit die Vernünftigkeit, der sie fähig ist, erhalte, nämlich die Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit. Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser Äußer­lichkeit als solcher ein­heimisch und bei sich.“ (S. 344 – die letzten Formulierungen sind offen­­sichtlich die von Leopold ge­mein­ten)


„Die Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Un­mittel­bar­keit der Begierde sowie gegen die subjek­tive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Be­lie­bens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. […]“ (S. 345; es geht in der Anmerkung insgesamt um die Rolle der Bildung)


––, dritter Abschnitt: Der Staat, § 258, Anmerkung: „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Ge­sell­schaft ver­wechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der per­sön­lichen Frei­heit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher letzte Zweck, zu welchem sie ver­einigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mit­glied des Staates zu sein. […] Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der In­divi­duen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere be­sondere Be­frie­digung, Tätigkeit, Weise des Ver­haltens hat dies Substantielle und All­ge­mein­gültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.“ (S. 399)


In der langen Anmerkung kommt „zu Hause“ nur ganz zum Schluss vor, und zwar in Be­mer­kungen, die sich auf die konsequente Inkonsequenz der Restauration der Staats­wissen­schaft von Carl Ludwig von Haller (6 Bde., Winterthur 1816–1834) beziehen: „[…], so besteht die Konsequenz bei solchem In­halt eben in der völ­ligen Inkonsequenz einer Gedanken­losigkeit, die sich ohne Rücksicht fortlaufen läßt und sich in dem Ge­gen­teil dessen, was sie soeben gebilligt, ebensogut zu Hause findet.“ (S. 402) Das hat also mit einem sozial­philo­so­phischen Entfremdungsphänomen denkbar wenig zu tun.³­


Die Struktur der angeblich subjektiven Entfremdung bei Hegel (wenigstens derjenigen, die Leopold anzu­sprechen scheint) ist also tatsächlich so: Der Bürger A fühlt sich dem Staat entfremdet, sagen wir, weil er meint, dass die Besteuerung auf seine berechtigten individuellen Bedürfnisse gar keine Rück­sicht nimmt, dass der Staat seine und anderer Bürger Freiheitsspielraum durch Besteuerung (und andere engstirnige Vor­schriften) so weit einschränkt, dass er ihm jede Selbstverwirklichung un­mög­lich macht usw. Damit sei die Harmonie der staatlichen und der privaten Zwecke, die doch sein soll, zer­stört. Diese Verhältnisse seien mehr als problematisch. – So weit behauptet A, indem er reklamiert, entfremdet zu sein, übrigens eine ob­jek­tive Entfremdung.

Hegel könnte nun auf der bloßen Beispielebene
ungefähr entgegnen:⁴ A verwechselt unter anderem den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft; konkreter sieht er nicht, auf welche Weise in der ver­fas­sungs­mä­ßigen Ord­nung sein Handlungsspielraum als Bürger gewahrt bleibt, ja durch die staatliche Ordnung erst er­mög­licht wird. Er sieht nicht, dass seine Standesvertretung der Besteuerung nach aus­führlicher Diskussion zu­ge­stimmt hat, dass eine freie Presse ihm selbst (als Leserbriefschreiber) mit seinen Vor­stellungen Gehör ver­schafft. Er sieht am wenigsten, dass die Zwecke, die der Staat mit Hilfe der Steuermittel verfolgt (Landes­ver­teidigung, innere Sicherheit, Infrastrukturmaßnahmen, öffent­licher Unterricht, For­schungs­för­derung usw.) ja gerade seinen wohlerwogenen eigenen Inter­essen entsprechen. Er berück­sich­tigt schließlich offen­bar überhaupt nicht – obwohl es darauf letztlich an­kommt –, dass er als vernünftiges Wesen die Pflicht hat, ein allgemeines Leben zu führen; merk­wür­diger­weise ist ihm der Staat scheinbar nicht Bedürfnis.

Diese Ent­fremdung ist bloß subjektiv, insofern es dem Bürger A und seinesgleichen (u.a.) an der nöti­gen Bil­dung fehlt; A muss hart
an sich arbeiten, um diese Entfremdung zu überwinden. – Heißt das, es gebe nach Hegel in dem gedachten Zustand nur subjektive Entfremdung? Offensichtlich nicht: Die tat­sächliche Ent­frem­dung As vom Staat ist objektiv, da sein Mangel an Bildung und der daraus resul­tie­rende Mangel an Erkennt­nis ganz objektiv sind, tatsächlich vorliegen (auch wenn diese ‚Tren­nun­gen‘ gerade nicht von A bemerkt werden). A ist nicht in der Harmonie mit seinem Staat, in der er (nicht nur nach seinem Gefühl, sondern nach dem rich­tigen Begriff des Staates) sein sollte und – weil dieser Staat vernünftig eingerichtet ist – auch sein könnte. Es ist nur so, dass die Gründe für diese (nicht die von A behauptete) Entfremdung im Subjekt, in objektiven De­fiziten des Subjekts liegen.

Fazit: Man kann cum grano salis sagen, dass in einer entwickelten Gesellschaft (wie Hegel sie be­schreibt), haupt­sächlich ‚subjektive
H ‘ E. vorkommt oder vorkommen könnte. Das ist aber nicht ‚sub­jektiveL E.‘ in Leopolds Sinn: Es ist nicht einfach diejenige E., die bestimmte Subjekte erleben (und der darüber hinaus keine objektiveL E. entspräche). Die subjektiveH E. ist in Leopolds Begriffen durchaus objektiv: Sie besteht tatsächlich aus einer erkennbaren (und von Hegel diagnostizierten) Trennung einiger Individuen von der angemessenen, auf der Grundlage von Bildung zugänglichen Erkenntnis ihres Staates (und ihren Folgen). – Die Aufhebung der Entfremdung besteht dabei in der (nach­gehol­ten) Bildung des Individuums; mit der Be­seitigung des Erkenntnismangels verschwindet diese(!) E., Bürger A wird mit seinem Staat versöhnt.⁵

Historischer Zusatz: Soweit ging es nur darum, Leopolds Andeutungen zur „alienation“ bei Hegel nach­zu­gehen, das von ihm (und vielleicht Hardimon) gemeinte zu verstehen, ausgehend von der Behaup­tung, es gebe bei Hegel nur subjektive
L E. Gemeinhin wird Hegels Entfremdungs­theorie (min­destens auch) auf der Grundlage von Hegels Begriff der ‚Entäußerung‘ diskutiert, wie er prominent in der Phänomenologie des Geistes fungiert.⁶ Auch Marx entwickelt seinen (frühen) Entfremdungsbegriff in den Ökono­misch-philo­sophi­schen Manuskripten von 1844 in Auseinandersetzung mit dieser Ent­äuße­rungs­theorie. In gewisser Weise ist es Marx, der Hegel vorwirft, nur eine ‚subjektive‘ E. zu kennen, in dem Sinne jedenfalls, dass es der Geist ist, der letztlich aus der Entäußerung zu sich selbst zurück­kehren muss – in Gestalt der Philo­sophie.⁷ Auf dieser Abstraktionsstufe hat das aber mit einer E., die (nur) in mentalen Zuständen von Individuen besteht, nichts zu tun. Für den Seminarkontext wird Hegels Ent­äuße­rungs­begriff vielleicht irgendwann insofern inter­es­sant, als er verstehen hilft, warum es nicht nur, all things considered, akzeptable, sondern sogar (nicht nur ethisch-moralisch) not­wendi­ge Entfremdung geben könnte.


1 Dort, wo es erforderlich ist, werde ich die Verwendung des Wortes „subjektiv“ wie von Leopold definiert, durch „subjektiv L “ mar­kieren und davon eine von mir Hegel unterstellte Gebrauchsweise als „subjektiv H “ unterscheiden.
2 In der eigentlichen „Anmerkung“ zum Paragraphen finde ich nichts Einschlägiges, dort geht es um den Begriff der Willensfreiheit. Die mündlichen „Zusätze“ zu den Paragraphen müssten philologisch anders behandelt werden als die „Anmerkungen“, aber davon kann man hier wirklich abstrahieren.
3 Im Zusatz zu diesem Paragraphen steht die berühmte Stelle: „[…] es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“.
4 Ich entnehme einfach den wenigen zitierten Stellen Material zu einer gedachten Entgegnung; dabei konfundiere ich selbst in einer Weise, die Hegel nicht billigen würde, die Ebenen der bürgerlichen Gesell­schaft und des Staates. Auf diese Weise kann ich dennoch erläutern, warum Hegel bei Leuten, die sich dem Staat in der geschilderten Weise entfremdet fühlen würden, zwar von subjektiver E., aber nicht von bloß subjektiver E. in Leopolds Sinn sprechen könnte.
5 Leopold sagt, vielleicht Hardimon referierend: „For Hegel […] this [bringing society closer to a state with­out any alienation] requires only attitudinal change; that is, that we come to recognise that the existing world is already objectively ‘a home’, and in this way ‘reconcile’ our­selves to that world, overcoming pure subjective alienation in the process.“ – Obiges ist ausdrücklich keine Rekon­struk­tion von Hegels tat­säch­lichem Ent­fremdungsv­er­ständnis, sondern bloß eine Zurück­weisung der von Leopold angedeuteten Hegel-Inter­pretation in diesem Punkt, die das Miss­verständnis gleichzeitig in seiner Genese verständlich machen soll.
6 Hegel verwendet in der Phänomenologie durchaus auch den Ausdruck „Entfremdung“; zentral ist er in VI.B: „Der entfremdete Geist. Die Bildung“ (Hegel 1986b, S. 359-441).
7 Dazu etwa Lukács 1973, Bd. I, S. 849.

Literatur

  • Hardimon, M. O. 1994. Hegels social philosophy: The project of reconciliation. 1st edition Cambridge [u.a.]. http://d-nb.info/94236094X/04.
  • Hegel, G. W. F. 1986a. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. Auf der Grundlage der „Werke“ von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, hrsg. von E. Moldenhauer and K.M. Michel. Frankfurt am Main.
  • Hegel, G. W. F. 1986b. Phänomenologie des Geistes. Auf der Grundlage der „Werke“ von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, hrsg. von E. Moldenhauer and K.M. Michel. Frankfurt am Main.
  • Leopold, D. 2018. »Alienation«. In The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2018. Ed. E.N. Zalta. Stanford (Cal.). https://plato.stanford.edu/archives/fall2018/entries/alienation/.
  • Lukács, G. 1973. Der junge Hegel: Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. Frankfurt am Main.

 

7. April 2018

Nicht aus aktuellem Anlass: Deutsche Politiker sagen heutzutage den Medien, wenn sie sich so schnell wie möglich zu einem katastrophalen Ereignis im Wir-Territorium äußern, praktisch immer: »Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen«. Da hiesige Medien ihre Überparteilichkeit dadurch zu be­wäh­ren pflegen, dass sie Politiker mehrerer Parteien zu Wort kommen lassen, liest man den Satz in Berichten über Anschläge, Explosionen, Großunfälle unter Umständen sogar mehrfach.
    Das war vor ein paar Jahrzehnten nicht (so) üblich, wenn meine Erinnerung nicht trügt. Auch da­mals pfleg­ten US-amerikanische Politiker bei solchen Anlässen aber schon zu sagen: »My prayers are with …«. Das hatte und hat einerseits den unschönen Beigeschmack der Bigotterie – man zweifelte ge­legent­lich, ob der betreffende Politiker denn wirklich so oft zu beten pflegt (vielleicht auch, ob Poli­tiker mit sehr viel Gott­vertrauen für wichtige Staats­ämter die richtigen sind).
    Zwar meinte ich immer, in Europa würden diesen Brauch ›wir alle‹ ein bisschen widerlich finden, aber wie so oft fingen Leute an, das transatlantische Ritual nachzuahmen. Nur die Religion muss man hier drüben doch aus dem Spiel lassen; allzu viele Leute hätten geradezu etwas dagegen, dass man für sie betet.
    Nun hat die englisch-amerikanische Variante gegenüber der Eindeutschung einen semantischen Vor­teil: Man kann für das Seelenheil oder die Genesung von Opfern beten, ohne sie persönlich kennen zu müssen, denn dem Herrn sind sie wohlbekannt, er liebt sie alle und kennt ihre Bedrängnisse.
    Mit den Gedanken bei wildfremden Leuten zu sein, ist schwieriger. Die Politiker wollen damit ja nicht sagen, dass sie nur irgendwie an die Opfer denken, so wie das jeder tut, der die entsprechenden Meldungen liest. Sie wollen Anteilnahme ausdrücken, sie wollen mitfühlend und warmherzig er­schei­nen und erfüllt von tätiger Nächstenliebe.
    Wenn man meint, mit Gebeten etwas für Menschen tun zu können, oder wenn Beten allgemein als an­ge­messenes Handlungssurrogat gilt, steht einem dafür die amerikanische Phrase zur Verfügung. Wenn man die nicht benutzen kann und sagen muss, dass man bloß an jemanden denkt, drängt sich dem Leser oder Hörer noch leichter der Verdacht auf, dass der Politiker vielleicht Besseres zu tun hätte, auch Hilfreicheres, Nütz­licheres, dass er doch keine Sentimentalität zur Schau stellen muss, die man ihm oder ihr je nach Typ eh nicht zutraut, und dass er schließlich augenscheinlich gerade nicht an die Opfer denkt, sondern daran, wie er mit seinen Bemerkungen dazu ›in den Medien‹ dasteht. Bestenfalls nimmt das Publikum es hin, weil ›man das halt so sagt‹. Außerhalb dieser speziellen Me­dien­situa­tion und außerhalb von Poli­tiker­kreis­en sagt man es aber nicht, noch nicht jedenfalls.
    Freilich zeugte es nicht von Rohheit, von Abgehobenheit, von Unkenntnis gegenüber ›den Sorgen und Ängsten der Menschen‹, wenn man sich nicht bei jeder Katastrophe dieser Phrase bediente, son­dern von Einsicht, Dezenz und gutem Geschmack.

23. Januar 2018

Ich ärgere mich anhaltend. Ich möchte die Situation, über die ich mich ärgere, ändern; vermutlich ist es nicht damit getan, meinem Ärger Luft zu machen, aber trotzdem:

Ethics of Entfristung

An der Universität von … trug sich einst zu, dass ein Mittelbauer entdeckte, die Verwaltungsknechte des Landesfürsten hätten ihn 57 Tage länger befristet beschäftigt, als der Souverän das zuließ. Er zeigte dies fristgerecht dem Gericht an, das der Landesfürst für solche Fälle gesetzt hatte, und kaum war das Verfahren eröffnet, gab die Universität zu, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und erkannte an, dass dieser Mittel­bauer sich in einen Freibauern verwandelt hatte, will sagen, solange im Dienst des Landes bleiben wird, bis er stirbt oder das Rentenalter erreicht. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lehrt und forscht er noch heute. So weit, so schön.
    Nun dient aber oberwähnter Mittelbauer nicht nur dem Land und der Universität, sondern auch – was kann schöner sein – einer edlen Wissenschaft. Das Schicksal dieser wie anderer Wissenschaften ist wieder­um auf etwas trübe Weise verschlungen in das ihrer Fachvertreter; als Fachvertreter fühlen sich hierzulande und in erster Linie die Lehrstuhlinhaber. Diese wiederum meinen qua Amt, manch­mal steht’s auch in der Lehrstuhldenomination, sie verstünden etwas von Moral. Praktisch äußert sich das bei Gelegenheit so, dass sie ganz schnell moralische Vorwürfe machen.
    Der Lehrstuhlinhaber als solcher fühlt starke Verantwortung für das Fach, weil er sich (gelegentlich bis zur Konvergenz) mit diesem identifiziert. Er empfindet dieses (genau dieses) Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein als Vollkommenheit, es ist richtiges Bewusstsein, Mangel daran ist ein Defekt. Seine Ver­ant­wortung für das Fach nimmt er typischerweise wahr, indem er a) bedeutende Texte veröffentlicht (ersatzweise viele) und b) indem er dafür sorgt, dass nur Berufene berufen werden. Die Dinge sind nun so weit richtig geordnet, dass er für b) – leider gemeinsam mit anderen, aber immerhin mit an­de­ren Lehr­stuhl­in­ha­bern – wirklich die Verant­wor­tung trägt, will sagen, entscheiden kann, wer Stellen erhält, wer der Wissenschaft dienen darf, sei es als Hiwi, als Zu-, pardon, Mitarbeiter oder gar als Kollege. Der Lehrstuhlinhaber sieht sich (weniger schlicht, mehr ergreifend) als Mitglied einer Aris­to­kra­tie. Gegen Aristokratien gibt es bekanntlich einiges zu sagen, aber auch allerhand zu ihren Guns­ten.
    Natürlich ist es bloß Aristokratie im Terrarium, auf die Etats, die Stellenzahl, die rechtliche Aus­ge­stal­tung, die Laufzeiten etc. haben die Professoren ja nur marginalen Einfluss – immerhin so viel frei­lich, dass das Resultat von Berufungs- und Bleibe­ver­handlung ihre Selbst­wahr­neh­mung in einem ansonsten äußerst an­erken­nungs­armen Bio­top zu stabilisieren geeignet ist.
    Die Berufenen auszuerwählen ist freilich ein schwierig Ding: Die Qualität der Arbeiten der Kan­di­da­ten wird typischerweise innerhalb der Aristokratie recht unterschiedlich beurteilt; wollte man die Ten­den­zen im geschichtlichen Verlauf in zynischer, also der Weihe des Gegenstands ganz un­an­ge­mes­se­ner Weise be­schrei­ben, würde man wohl von Moden sprechen: Ein paar Jahrzehnte lang ist die ›ana­ly­ti­sche Philosophie‹ eine amerikanische Naivität, anschließend ist das Philosophieren in diesem Stil das einzig senkrechte, ähm, ratio­nale. Wenigstens kann man die Arbeiten des Kandidaten meist ziem­lich objektiv einer Richtung zuordnen, dazu muss man sich nur die Literaturverzeichnisse ansehen. Aber dann geht der Streit halt erst richtig los.
    Wie gut, dass es noch andere, selbstverständlich ebenfalls rational ausweisbare Kriterien gibt: Wer sich als berufen (aber noch nicht auserwählt) erweisen will, muss cha­rak­ter­liche Min­dest­an­for­de­run­gen erfüllen, das ist in der Philosophie so ähnlich wie in Hollywood, die Philosophie ist hierzulande aber noch stärker eine Männerwelt, so dass bislang nicht das gesamte Appetenzverhalten des Kan­di­daten durchleuchtet wird – aber schweifen wir nicht ab: Der Kandidat muss vielmehr nur bereit sein, selbst Verantwortung für das Fach zu tragen, sich mit dem Fach (s.o.) identifizieren, die richtigen Prio­ritäten setzen. Er muss natürlich viel ver­öf­fent­lichen, abgehakt, selbstverständlich. Leider nicht ebenso selbstverständlich scheint es zu sein, dass er persönliche Interessen hintanzustellen fähig sein muss. Es zeugt eben von einem schockierenden Mangel an Identifikation mit dem Fach (s.o.), wenn man auf anderem Wege als dem der Kooption auf eine Stelle zu gelangen sucht, um so mehr auf eine Dauer­stelle. Überdies offenbart sich dabei ein Mangel an logischem Vermögen auf Seiten des Usur­pan­ten: Von echter Dauer kann ja nur die Position des Auserwählten sein, dessen Berufung geprüft und be­währt ist.
    Es ist wohl nötig, an dieser Stelle jenes äußerlich ähnliche Verhalten in Vergleich zu ziehen, das man bei einigen Auserwählten beobachtet, die einen bestimmten Ruf, beantragte Drittmittel, eine Ver­schie­bung der Pensio…, pardon, Emeritierung nicht erhalten, die dann nämlich gern klagen oder wenigstens nach der Policey rufen. Das ist etwas anderes. Bei jenen Versagungen sind und waren näm­lich regel­mäßig fachfremde Erwägungen im Spiel, bureaukratische Schikanen, persönliche Ani­mositäten, ja, man muss es sagen, der Neid fachlich Gescheiterter. Die aufopferungsvolle Beschreitung des Rechts­wegs – sie hält ja von der Forschung ab – ist dann verdienstvoll, ist Wahrnehmung der Ver­ant­wortung für das Fach (s. o.).
    Anders beim Mittelbauer auf Zeit, der sich einklagt: Er blockiert regelmäßig eine Quali­fi­ka­tions­stel­le, nimmt mehreren anderen die Chance (dereinst auserwählt zu werden), ja schadet sich selbst, weil er seine Beruf­bar­keit (ein heikel Ding fürwahr) zerstört.
    Es spielt so weit keine Rolle, dass er nach der Rechtslage nichts anderes getan hat, als seinen Vertrag zu erfüllen, und das darauf beruhende Angestellten­verhältnis sich nach Über­schreiten einer Frist, die die Verwaltung berechnet, automatisch in ein dauerhaftes verwandelt, was bloß deshalb ein Gericht fest­stellen muss, weil es die Ver­waltungen auch wider besseres Wissen zu leugnen pflegen.
    Denn er könnte ja auf die Klage verzichten. Die moralischen Ansprüche im Fach sind halt hohe, de­nen ein Kandidat durch pünkt­liche Befolgung sämtlicher Rechts­pflichten noch längst nicht Genüge tut. Dadurch, dass er sich einklagt, erregt er den Verdacht, es genau darauf angelegt zu haben. Und das wiederum kann ja nur bedeuten, dass er an sich denkt und nicht an das Fach.
    Spätestens jetzt werden Außenstehende sich ein wenig wundern. Mancher wird sich sagen: »Ist es nicht völlig normal und überhaupt nicht verwerflich, auch an die eigene zeitliche Wohlfahrt zu den­ken? Zumal, wie man sagen hört, die Aussichten, in diesem Fach auf dem vor­ge­sehe­nen Wege be­rufen zu werden, mit denen in einer Lotterie zu vergleichen sein sollen. Zumal man Leute kennt, die Mitte 40 plötzlich mit Habi­li­tation und allem drum und dran, leider auch mit Familie, auf der Straße stehen. Und außer Philosophie gar nichts können.«
    Falsch gedacht! Zwar, wenn jeder so denken würde, dann wäre vielleicht – bis der Ge­setz­geber den Zustand beendet – ein nicht unerheblicher Teil der Mit­tel­bau­stel­len von Lebens­zeit­an­ge­stell­ten ›blo­ckiert‹, will sagen, die viel­fäl­ti­gen nicht-wissen­schaft­lichen Arbeiten, die da typischer­weise anfallen, würden von Leuten erledigt, die gelernt hätten, sie effektiv zu erledigen, und weniger junge Men­schen hätten die ›Chance‹, sich trotz solcher Auf­gaben auf solchen Stellen zum Erwerb eines Lotte­rie­lo­ses zu qualifizieren.
    Darum geht es aber nicht. Überhaupt ist der ganze Ver­gleich mit einer Lotterie zynisch. Es geht dar­um, dass die wahr­haft Be­ru­fe­nen auserwählt werden. Zum Nutzen und From­men der Philo­sophie (und damit letztlich der Mensch­heit). Das können aber nur die beru­fenen Fach­vertreter tun. Un­glück­liche for­mal­gesetz­liche Rege­lun­gen ver­hindern, dass die Lehr­stuhl­in­haber ihrer Ver­ant­wor­tung gegen­über dem Fach (s. o.) gerecht werden. Das muss der Kan­di­dat einsehen, sonst dis­qua­li­fi­ziert er sich selbst.
   So ist das.
   Und weil das so ist, müssen das auch die anderen Mittel­bauer so sehen. Sonst zweifelt man stark an ihrer fach­lichen (oder war es die cha­rak­ter­liche?) Eignung.
    Weil die Welt andererseits aber nicht ideal beschaffen ist (vom Müssen kann man zwar auf das Kön­nen schließen, aber nicht aufs Sosein), pflegen sich alle Be­tei­lig­ten nach einer Weile wieder einzu­kriegen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und moralische Animositäten zu vergessen (einige um sich wieder ganz auf Hah­nen­kämpfe konzentrieren zu können). Wie schnell das geht, scheint ir­gend­wie von der Fre­quenz gemein­samer abend­licher Akti­vi­tä­ten mit Alko­hol­kon­sum an dem be­tref­fenden Institut abzuhängen – und vom Anteil an Ganz­nüch­ter­nen. – In diesem Sinne: Wohl­sein!

15. Dezember 2017

Die richtige Verwendung von »gelten als«

Inspektor Saito fragt einen Wacht­meister, was er über die Umstände weiß, in denen eine junge Auslän­derin in einer Straße zwischen alten Tempeln ermordet wurde. Sie hatte in einem dieser Tempel regelmäßig an den Medita­tions­übungen abends von sieben bis neun teilgenommen. Der Wacht­meister berichtet weiter: „Davis-san ging immer allein. Die Ent­fer­nung zum Haupttor ist nur kurz, und das Tempel­gelände gilt als sicher.“ (S. 10) Dem Polizisten kommt es darauf an, deutlich zu machen, dass der Ort ganz allgemein, von allen nicht genauer Unter­rich­te­ten, für sicher gehalten wurde. Durch den Gebrauch der Wendung ist es überflüssig, explizit zu ma­chen, wer dieser Meinung ist. Es schwingt mit, dass die Auffassung falsch, zu un­diffe­ren­ziert, über­trie­ben, veraltet etc. sein könnte. Der Ober­wachtm­eister ergänzt später: „Es gibt hier Straßen­räuber, das stimmt. Das Tempel­gelände ist nicht mehr sicher. Das war es einmal, und Davis-san glaubte, es sei noch so.“ (S. 11) – Leser-san, ziehen Sie Ihre Schlüsse!
Janwillem van de Wetering:
Inspektor Saitos kleine Er­leuch­tung, dt. von Hubert Deymann, 33. – 39. Tausend, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1989 [dt. EA 1986]

30. März 2017

Kennen Sie das? Ein kleiner Einkauf im nächstgelegenen Discounter, so einem Stadtteilfiliälchen mit vollgestellten Gängen, undurchschaubarem Sortiment und uralten, klemmenden, nicht Spur haltenden Einkaufswagen. Das Personal nicht zu vergessen, das sich durch die Kundschaft, die kreuz und quer hindurchläuft und immer an den engsten Stellen stehen bleibt, gestört fühlt. Macht nix, man braucht nur eine handvoll Artikel, man war beim Friseur und kommt gerade hier vorbei, man hat eigentlich auch Zeit. Es stört also nicht sehr, dass eine von zwei besetzten Kassen, die linke, gerade geschlossen wird. »Bitte hier nicht mehr anstellen!«. Kein schickes Display, keine Durchsage, einfach ein Pappschild auf dem Warenband vor der Kasse. Die andere Schlange ist gar nicht so lang, man kann noch einen jüngeren Mann, der bloß eine Dose Bier zu erwerben wünscht, vor lassen.
    Direkt schnell geht es natürlich auch nicht, vor allem niemandem schnell genug. Dem Herrn mit dem Trinkbedürfnis erst recht nicht (es ist ein ungewöhnlich warmer Frühlingstag). Die Kassiererin links, die Schluss machen will, ist mit einem höflichen alten Herrn beschäftigt, der die richtige Summe nicht auf anhieb aus dem Portemonnaie kramt … Die Dose Bier wechselt unversehens, fast ganz unauffällig, die Seite und kommt hinter das Bitte-hier-nicht-mehr-Schild zu liegen. Aus der begrenzten Tiefe des Raumes tänzelt beinahe ein adrettes, schlankes, blondes Mädchen heran, ein bisschen desorientiert vielleicht, sie hat große Kopfhörer auf, tendiert jedenfalls zum nun fast leeren Kassenband (man möchte nicht alle denkbaren Gründe für die Kassenwahl erörtern). Was sie in der Hand hatte, passt auch noch hinter das nicht sehr furcht­ein­flößende Schild­lein, das ganz allein standhalten soll. Nun sind sogar drei türkische Männer – die üppige Ausstattung mit sekundären und tertiären Geschlechts­merk­malen soll keine Zweifel aufkommen lassen – mit je einer Avocado, aber gemeinsam zur Stelle. Die Pappe hat sich scheinbar spontan verschoben. Eine Landsmännin gesellt sich schnell noch hinzu, zwei Kleinigkeiten und eine Handtasche, in der sich unschuldig herumwühlen lässt, pas­sen da auch noch hin. Un­ge­schick­ter­weise hinter dem Schild, es gibt halt unüberbrückbare kulturelle Differenzen, postiert ein junger Afrikaner ein Paket Zucker, nicht den billigen, sondern Süd­zucker (ist das ein zaghafter, aber schon über das Ziel hinaus schießender Versuch der Anpassung?). Er ist nicht der letzte, die Botschaft des Schildchens, wiewohl in Warnfarbe gedruckt, verliert den Rest ihrer Wir­kung.
    In der regelkonform von den Geduldigen, Zaghaften, Gleichgültigen und über den Dingen Stehenden gebildeten Warteschlange rechts ist man mittlerweile dran. Weil man die Formation des prallen Lebens links davon im Blick behalten hatte, wird man von der Kassiererin ermahnt, mit dem Wagen bitte ein­mal ganz 'rum zu fahren, damit sie einen prüfenden Blick hinein werfen kann. Beim Bezahlen kann man plötzlich nicht mehr an sich halten und nölt herum, ob sie denn hier großen Wert darauf legen würden, die Kundschaft zu veräppeln mit diesen Schildern, an die sich niemand hält … und dann muss das erklärt werden, in den eigenen Ohren klingt man längst wie ein verwöhntes Kind, das auch ein Eis haben will, aber keins bekommen soll …, aber das sei hier leider immer so, jedesmal geradezu, wenn man selbst … Das Exemplarisch-Schicksalhafte an der Situation drückt auf den Kehlkopf, die richtigen Worte, um in einer knappen Bemerkung alles zu sagen, finden sich nicht, zu spät ist es eh schon. Der Gesichtsausdruck des nächsten in der Schlange spricht Bände, obwohl er mit seinem Handy beschäftigt ist, die Kassiererin, die einen Blick mit ihm gewechselt hat, erklärt betont geduldig zurück. Es macht 17 Euro 16, 16 Cent hat man klein, und man muss das Zeug nur noch am viel zu kleinen Packtisch, an dem man immer irgendwem im Weg steht, in den Rucksack packen, weil man das, um den Betrieb nicht aufzuhalten, nicht gleich an der Kasse tut …
    Kennen Sie sowas? Nein, Ihnen passiert das nie? Haben Sie vielleicht spontan Lust auf ein … Achso, Sie kaufen nie im Supermarkt ein, höchstens mal im Bio-Supermarkt, wenn der Hofladen gerade ge­schlossen hat, man muss nämlich regionale Produktion … Herrlicher Tag heute, viel zu schön eigentlich, um in einem Café herumzusitzen. … Ihnen auch, Ihnen auch.

21. Oktober 2016

Heute Abend, da ich gerade von dort zurückgekommen bin, möchte ich ein bisschen Werbung für Ur­laub im Bergischen Land machen. Ein Freund besitzt ein denkmalgeschütztes, verschiefertes Fach­werk­haus, wie es typisch ist für die Gegend, das ist ein sehr guter Ausgangspunkt für viele der Akti­vi­tä­ten, die dort möglich sind und durch die das Bergische Land zu einer (ziemlich unterschätzten) viel­seitigen Urlaubsregion wird. Ich habe diesen Freund und seinen Sohn (12 Jahre alt) am Montag Abend dort getroffen und es hat noch für einen Besuch im örtlichen Hallenbad gereicht. Das hat nicht nur den mittlerweile üblichen warmen Sole-Außenbereich und Rutschen für die Jungen, sondern man kann auch ganz gut ein paar Bahnen schwimmen.
Am Dienstag haben wir eine Wanderung von etwa 19 Kilometer rund um Schloss Burg unternommen – die Gegend ist unbestreitbar dicht besiedelt und trotzdem kann man mehrfach das Tal der Wupper kreuzen und die abwechslungsreiche Herbstlandschaft genießen, ohne viel an stark befahrenen Stra­ßen entlang zu gehen oder überhaupt durch Ortschaften zu laufen. Dass der Mischwald um diese Zeit prächtige Farben zeigt, braucht ja gar nicht gesagt zu werden; die kommen auch noch bei leicht regne­rischem Wetter sehr schön zur Geltung. Man braucht natürlich die richtige Kleidung. (Ebenso gut eignet sich das Terrain übrigens nach Auskunft des Freundes für Fahrrad­touren, wenn man einiger­maßen fit ist und es trotzdem nicht gerade auf endlose Anstiege abgesehen hat.)
Am Mittwoch hat es allerdings ein bisschen zu heftig geregnet … Also haben wir einen Museums­besuch eingeschoben, nämlich im Neander­taler­museum in Mettmann. Das ist nicht nur dem berühmten Fund gewidmet und auch nicht allein dem Homo sapiens neanderthalensis (wie er dort noch heißt), sondern der ganzen Paläoanthropologie. Das Forschungsgebiet ist stark im Fluss und so sind nicht alle Informa­tionen auf dem allerneuesten Stand der Wissenschaft (vorausgesetzt, der Wikipedia-Artikel ist zu­tref­fend), aber eine ganze Menge über diesen Frühmenschen und seine Lebens- und Ernährungs­weise (im Vergleich zu Australopithecus, Homo habilis, Homo erectus usw.) erfährt man schon, man kann die anato­mischen Unterschiede an Schädelmodellen allmählich ertasten, es gibt Filme, die die Herstellung eines fortgeschrittenen Faustkeils zeigen und das museumspädagogische Konzept schafft überhaupt den Spagat, sowohl jugendliche als auch erwachsene Besucher mit und ohne Vorkenntnisse anzu­spre­chen. Man sollte sich den Gang zur ehemaligen Fundstelle im Düsseltal nicht entgehen lassen: Das Tal ist immer noch schön, aber man ist auch von der Veränderung durch den Kalk­abbau (gegen­über den Darstellungen noch aus dem frühen 19. Jahrhundert) frappiert. Und der genaue Ort, wo 1856 die Kno­chen gefunden wurden, die das Menschenbild veränderten, hat unbe­streit­bar eine gewisse Aura, auch bei Regen und obwohl der Felsen, in dem sich die Höhle befand, restlos verschwunden ist.
Am Donnerstag sind wir um Altenberg gewandert, etwas weniger, als wir geplant hatten, weil der Junge Magenprobleme hatte. Aber auch Spaziergänge entlang der Dhünn sind reizvoll und das Tal ist natürlich in dieser Hinsicht gut erschlossen. Wenn man überhaupt deutschen Mittelgebirgslandschaften etwas abgewinnen kann (bei Leuten, die in einer solchen aufgewachsen sind und nun in Großstädten leben, dürfte das der Fall sein), dann wird man von der Art, wie sich dieses Flüsschen durch Wälder und Wiesen schlängelt, durchaus angerührt werden. Und den Blick von der Dhünntalsperre über den See und seine Buchten und dann ins Tal hinunter kann man nur als romantisch charakterisieren – die große moderne Betonschüssel des Überlaufs stört gar nicht.
Zwischendurch sollte man unbedingt den ›Bergischen Dom‹ betreten und den Raum auf sich wirken lassen. Es ist nicht einfach, die zisterziensische Klarheit des rein gotischen Baus heute noch als karg wahrzunehmen, trotz der jetzt wirklich zurückhaltenden Ausstattung des Innenraums und trotz des hellgrauen Steins. Das Licht in seiner feinen Filterung durch die filigranen Fenster durchströmt den Raum in einer Weise, die auch die ungläubige Seele zu erheben geeignet ist, sie jedenfalls leichter macht. – Beim ersten Besuch sollte man es vielleicht bei der intensiven Aufnahme der Raum­atmo­sphä­re belassen, aber wenn man wieder kommt, kann man sich beispielsweise genauer mit den Grab­mälern derer von Berg im Herzogenchor beschäftigen oder natürlich mit den unterschiedlichen Epochen der Glasmalerei, die vom Chor bis zur Westfassade verwirklicht sind.
Irgendeine Gastronomie-App hat uns schließlich zum Abendessen in ein griechisches Restaurant in Burscheid gelotst, das »Korfu«. Das war eine sehr angenehme Überraschung: freundliche, aber un­auf­dring­liche Bedienung, griechische Küche auf recht hohem Niveau, interessante Gerichte auf der Saison­karte (ich hatte ein Arnaki Kleftiko, was ich vorher noch nie gegessen hatte), auch die griechische Bohnen­suppe war schon gut gewürzt und schmackhaft … Wir sind vom Hauptgericht satt geworden, aber ein 12jähriger verträgt immer einen Nachtisch … und so haben wir schließlich drei verschiedene Desserts probiert – alle lecker, aber unsere Empfehlung sind die Hefeteigbällchen mit Vanilleeis und Honig (Lukumades), ebenso schlicht wie köstlich!
Das sind ein paar Beispiele für angenehme Unternehmungen, die sich im Bergischen Land fast von alleine anbieten. Dass es noch viele andere Möglichkeiten gibt (bei den kulturellen etwa das Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal, unter den kulinarischen das Restaurant »Zur Post« in Odenthal, wenn es etwas richtig Feines sein darf und man die berühmten Gourmettempel in Bergisch Gladbach scheut) wird jeder schnell sehen, der sich kundig macht. Und weil das ja Werbung fürs Bergische Land sein soll – wir wären alle gern länger geblieben –, berichte ich nun nicht mehr von der Besichtigung des Doms in Limburg an der Lahn (den man allerdings mindestens einmal im Jahr besichtigen sollte) heute auf der Rückreise und auch nicht vom Kuchen im Café Will (weder vom traditionellen Apfelkuchen noch von der modernen Amarettotorte) ebenda.

8. Oktober 2016

Chatten

Ohne je große Begeisterung für diese Art des Gedankenaustauschs entwickelt zu haben, habe ich in den letz­ten Jahren (fast sind es Jahrzehnte: im IRC hat das noch im vergangenen Jahrhundert angefangen) auf mehre­ren Plattformen eine ganze Menge Text an Leute aus vieler Herren Länder geschickt und von ihnen empfangen. Irgendwo auf dem Globus findet sich ja zu jeder (lokalen) Tages- und Nachtzeit jemand, mit dem man irgendwelche Interessen oder Vorlieben teilt und mit dem man, gerade weil man ihn vermutlich nie treffen wird, zwanglos ins Gespräch kommt. Als Freizeitgestaltung rangiert das so etwa auf dem Niveau eines Fernsehabends, würde ich sagen, immerhin rostet dadurch das eigene Basic English nicht ein. Für die Lingu­isten sind Chats sicher eine faszinierende neue Quelle für Sprach­verwendungen, die der gesprochenen Spra­che näher stehen als traditionelle Formen der Schrift­lich­keit. Vielleicht findet man dereinst heraus, dass der durchschnittliche Chat große Ähnlichkeiten mit dem durchschnittlichen Bargespräch in einer Großstadt (in einem Land, in dem Bars auch dazu da sind, dass man sich mit Fremden unterhält) unter Fremden hat … Oder auch nicht.

Mir scheint aber nun, seitdem Smartphones allgemein in Gebrauch gekommen sind, schon wieder eine recht gravierende Veränderung im Chatverhalten der meisten Leute eingetreten zu sein: Man hat den Chat jetzt immer dabei und braucht ihn eigentlich gar nicht zu beenden und wieder aufzunehmen. Dafür ist man natürlich keineswegs auf einen Chat konzentriert: Man geht gleichzeitig allen möglichen Alltags­ver­rich­tun­gen nach (das war beim Chatten von jeher so) und wird vielfältig durch Dringenderes abgelenkt: Durch den Verkehr, durch Nachrichten auf anderen Kanälen, Anrufe, zur Neige gehende Akkus usw. Aber der Chat läuft nebenher immer weiter … man bekommt neue Nachrichten von ein und derselben Person nach Minuten, Stunden, Tagen und kann sich nun spontan mehr oder weniger schlecht an den Stand des Gesprächs er­in­nern. Hier steckt die Neuerung: Anstatt eine völlige Ver­zet­te­lung des Gedankenaustauschs zu vermeiden, nimmt man sie als Normalität hin. Was sich genau da­durch an Inhalt und Verlauf der Kommunikation ändert, ist schwer dingfest zu machen: Mir scheint, es kommt zu faden und prinzipiell endlosen Wieder­holungen, man hat es schwer, sich vom gleich an­fangs festgestellten punktuellen gegenseitigen Interesse loszumachen oder von dort aus neues Terrain zu bestellen. Es führt einfach nicht eins zum anderen.


Nun ist man natürlich nicht in einer kafkaesken Situation gefangen: Stattdessen schläft der Austausch irgend­wie ein, ohne dass man bewusst und absichtlich Abschied genommen oder auch nur ein Ende festgestellt hätte. Nach Monaten kann man dann praktisch wieder von vorne anfangen, ermuntert von der vagen Er­in­ne­rung an eine Begegnung im Wortraum, die vielleicht wirklich einmal viel­ver­spre­chend war.
Neue Kommunikationsformen nehmen einem die Mühen des Kennenlernens nicht ab. Und die Tücken dieser Formen muss man beim gegenwärtigen Tempo der Neuerungen auch noch ständig neu in Er­fah­rung bringen.

3. September 2016

Nachtrag zu Geschmacksurteilen

In einer kurzen Diskussion über meine potenzielle Kritik an Berninis Plastik (31.8.) hat sich wieder einmal gezeigt, dass man in ästhetischen Fragen kaum umständlich genug sein kann, wenn es um die Klärung der Begriffe geht, die mit Wertungen zu tun haben. Ich will hier natürlich keinen Vorschlag zur Definition von ›Geschmack‹ machen und auch den Begriffsklärungen keine neue hinzufügen, son­dern nur darauf reflek­tieren, wie ich den Ausdruck dann, wenn ich halbwegs sorgfältig rede, ge­brau­chen möchte: Es stimmt mit dem alten Spruch, dass man über Geschmack nicht streiten könne, überein, wenn man von einem rein per­sön­lichen Geschmack spricht, dessen Urteile man anderen überhaupt nicht zum Nachvollzug anbieten will. Man kann bestimmte Kunstwerke anderen vorziehen, weil sie einen Reiz besitzen, für den es nur bio­gra­phi­sche Gründe gibt, weil sie angenehme As­sozia­tionen aus­lösen, von denen man nicht annimmt, dass sie bei anderen auch ausgelöst werden. Der eine mag Pferde­bilder, weil er Pferde mag, der andere hat eine Schwä­che für einen gewissen Popsong, den er in seiner Jugend unter höchst angenehmen Umständen gehört hat, ein dritter schaut sich gerne Horror­filme an und kann sich auch nicht so ganz erklären, warum er sich gerne gruselt. Ein ästhetisch halb­wegs aufgeklärter Mensch wird sich nicht wundern, wenn selbst seine Freunde diesen seinen Ge­schmack nicht teilen, er wird nicht vermuten, dass der künstlerische Wert eines Kunstwerks davon irgendwie betroffen ist; das einzige ästhetische Problem mit dieser Art von Geschmack liegt darin, dass wir uns kaum je sicher sein können, dass unser Gesamturteil über ein Werk, das nicht nur privat gültig sein soll, von solchen ›grob sinnlichen‹ An­haf­tungen frei ist.
    Am anderen Ende der Skala steht unser Einverständnis mit den feststehenden Wertungen des Kunst­ka­nons: Wenn wir aus selbst gewonnener Überzeugung anerkennen, dass Beethovens Klavier­sonate op. 106 (die sog. Hammerklavier-Sonate) große Musik ist, Rembrandts »Nachtwache« ein bedeutendes Gemälde und Sophokles' »Antigone« ein zeitlos bewegendes Drama, dann zeigen wir damit eigentlich bloß, dass wir gelernt haben, wie man im Bereich dessen, was in unserem Kulturkreis ›Kunst‹ heißt, überhaupt urteilt. Es besteht zwar ein Spielraum in der Rangordnung auch der kanonischen Werke und über die Zugehörigkeit von fast jedem konkreten Werk zum Kanon der jeweiligen Gattung mag Streit möglich sein, aber wer mit den Werken Bachs, Beethovens, Verdis, Debussys, Bartoks, Brittens, … Lachen­manns ins­gesamt nichts anfangen kann, der wird halt keine Ahnung von Musik haben (und nicht einen ungewöhnlichen Geschmack). Man kann sich des Urteils über ›klassische Musik‹ enthalten, weil man nur Rap hört (und dort zu diskussionswürdigen Unter­schei­dungen fähig sein mag), aber man kann nicht ernsthaft Jay Z über Mozart und sämtliche Komponisten der Wiener Klassik stellen. (Diese Behaup­tungen haben wahrscheinlich Implikationen für den Kunstbegriff, denen man nachgehen müsste, aber das will ich im Augenblick nicht tun.)
    Stattdessen will ich deutlich machen, dass es meines Erachtens (mindestens) eine dritte Ebene bei den ästhetischen Urteilen gibt (und darin ganz sicher einige verschiedene Arten),  nämliche solche, bei denen Gründe angeführt werden könnten für den Vorzug, den man etwa einem Genre, einem be­stimm­ten Stil oder eben dem Werk eines Künstlers vor anderen einräumt. Auf diesem weiten Feld finden immer wieder die Schlachten zwischen der Avantgarde und den Traditionalisten statt oder die zwischen den Kritikern, die nur l'art pour l'art für echte Kunst halten, und denen, die jene für bloß artistisch, arm und letztlich unernst er­klä­ren … Die Geschichte der ästhetischen Wertung lässt hier kaum Grenzen erkennen, fürchte ich: Während die meisten Kunstgebildeten es heute wohl für eine Sache des Privatgeschmacks halten würden, ob jemand die Architektur der Gotik, der Renaissance oder des Barock tendenziell höher schätzt, hat es unbestreitbar Zeiten gegeben, in denen auch unter den Stilepochen eine mehr oder weniger unbestrittene Rangordnung herrsch­te; es gab mehr als eine querelle des anciens et des modernes und es ist noch nicht lange her, dass die klas­si­sche griechische Antike in mehr als einer Gattung die Maßstäbe setzte (oder man jedenfalls allgemein so tat als ob …).
    Und nachdem ich das so weit geklärt habe, stelle ich fest, dass ich nicht genau weiß, ob meine Aus­stel­lun­gen an Berninis »Apollo und Daphne« ein Fall einer individuellen Kritik sein sollten (ein Werk wird irgend­welchen getrennt vom Einzelurteil auszuweisenden Kriterien nicht oder weniger gerecht …) oder ob ich zu einer einordnenden Wertung angesetzt habe (ein Werk ist ein typischer Vertreter dieser oder jener Stil­gruppe, der bestimmte ästhetische Gebrechen anhaften …). Man muss obendrein eine ganze Menge Werke kennen und verglichen haben, um auch nur im Hinblick auf die Klarheit über die Art des ästhetischen Urteils klar urteilen zu können …
    Wenn man etwas Klares und Gründliches über die Verwendung des Ausdrucks ›Geschmack‹ lesen möchte, auf dass man das Wort hinterher differenzierter gebrauche, besorge man sich folgenden Auf­satz:
Werner Strube: »Über den Geschmack läßt sich (nicht) streiten. Traditionelle sprachanalytische Lösungen des De-gustibus-Problems«. In: Philosophy, Theology, Culture. Problems and Perspectives. Hg. v. Tengiz Iremadze u. a. Tbilissi 2007, S. 348-365. (Stark überarbeitete Fassung von: »Zur Geschichte des Sprichworts ›Über den Geschmack läßt sich nicht ­streiten‹«. In: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 30 [1985], S. 158–185.)

31. August 2016

Rom, Anschauungen

Ein Bekannter (das Wort sagt zu viel und zu wenig; es gibt halt nicht für alle Maße und Arten der per­sön­lichen Vertrautheit und Distanz und die Dimension ihrer Erwünschtheit ein eigenes Wort, zumal wenn noch die Schattierungen im virtuellen Raum dazu kommen), ein Bekannter also ist gerade in Rom und berichtet im Chat von Erlebnissen mit Gebäuden, Gemälden und Skulpturen. Zuletzt hat er unter anderem Berninis „Apollo und Daphne“ (jetzt in der Galleria Borghese) hervorgehoben. Ich habe angemerkt, die Diskussion über diese Plastik spiele eine Rolle bei den Versuchen, die Grenzen der Künste abzustecken, die in der zwei­ten Hälfte des 18. Jahrhunderts hartnäckig angestellt wurden. Ich weiß aber nicht mehr, wer darauf hinweist (Lessing im
Laokoon? Winckelmann wendet sich gegen Bernini …; Goethe erwähnt ihn später überhaupt nicht direkt, sagt das Register der Hamburger Ausgabe); vielleicht tut es mangels Anschauung keiner der damals führend Beteiligten, sondern hätte es bloß tun sollen: Denn die Darstellung jener ‚Metamorphose‘ ist doch vielleicht der wichtigste Versuch (bestimmt in der Plastik des Barock), die Begrenzung der Bildhauerei (und auch der Malerei) auf die Darstellung eines Augenblicks durch den Trick der Wahl des ›fruchtbaren Augenblicks‹ aufzuheben.
    Ob das gelingt, hängt auf der einen Seite eben von der richtigen Wahl und natürlich der gelungenen Dar­stellung jenes Augenblicks ab, auf der anderen Seite aber schlicht von der Bezugnahme auf den als bekannt vorausgesetzten Mythos (jedenfalls machte man das damals so und konnte es bei seinem Publikum so ma­chen): Eine Szene wie die von Bernini in Stein gehauene ist vielsagend für den Betrachter, der Ovids »Meta­morphosen« kennt, wenigstens die populärsten Geschichten, wenigstens dem Stoff nach. Mit einem in der klassischen Mythologie völlig Ungebildeten, der ansonsten aber Verständnis für Plastik hat, müsste man den Versuch anstellen; ich glaube, ein bisschen verwirrt wäre der allemal.
    Aber darauf will ich im Augenblick nicht hinaus: Ich habe mich nicht recht getraut, jenem Bekannten zu gestehen, dass ich just gegen diese Figur früher so meine Vorbehalte hatte (tendenziell gegen die barocke Plastik im Gegensatz zu der der Renaissance überhaupt). Nun kenne ich sie nur von ein paar Abbildungen, und das mag entscheidend sein; ich bin vielleicht nicht ganz so sehr wie Herder davon überzeugt, dass man Plastik mit den Augen wie mit Fingern von allen Seiten abtasten muss, aber auch auf Bildern aus ver­schie­denen Blickwinkeln sieht man klar, dass die Gruppe zur Betrachtung von allen Seiten, sozusagen im Umgang angelegt ist. Da mag sie jenes Leben entfalten, auf das es bei dem Sujet ankommt, und das bei der ver­klei­nerten zweidimensionalen, statischen Abbildung auf der Strecke bleiben muss.
    Mein Einwand ist aber, meine ich, ein anderer, einer aus naturalistischer Gesinnung, deren Rustikalität mir etwas peinlich ist: Sieht man angesichts der Skulptur nicht, statt der Leidenschaft des liebestollen Gottes (sic deus in flammas abiit, sic pectore toto uritur et sterilem sperando nutrit amorem – ich wollte, ich könne lateinische Verse skandieren), statt der Erschöpfung (viribus absumptis expalluit illa, citaeque victa labore fugae …) und Furcht der Fliehenden, der jungfräulichen Nymphe, halb noch vor dem mutmaßlichen Gewalt­täter, halb vor der Verwandlung, die mit ihr geschieht, sieht man stattdessen nicht – ein bisschen früh, ein bisschen stark – die Kunst Berninis, nimmt man nicht die Geste war: Schaut her,
mir gelingt es, all das in Stein zu bannen, in totem Stoff die Geschichte auf dem Höhepunkt ihrer Dramatik zu erfassen; die unter­schied­lichen Leidenschaften, die Reize des männlichen Gottes und der keuschen Nymphe, sogar die Ver­wand­lung des eben noch flüchtenden Menschen in einen Lorbeerbaum – den schwierigsten denkbaren Vor­wurf habe ich gewählt, ich habe Ovid in die Schranken gefordert und ich triumphiere!
    Wagemut und Selbstbewusstsein stehen einem Künstler, einem, der Großes leisten will, gut an; dass er ziemlich deutlich die Herausforderung der vorgeblichen Begrenzung seiner Kunst thematisiert, kann man ihm heutzutage (wo die Phrase vom ›Grenzen sprengen‹ bei der Anpreisung jedes sein-sollenden Kunstwerks einfach zum Repertoire gehört) kaum vorwerfen. Dennoch ist mir ein Werk, das ein wenig länger zum Ver­weilen beim Sujet (das doch fraglos dargestellt ist), zum Einfühlen einlädt (unter anderem in die Empfin­dun­gen der Figuren, eben so, wie sie der Künstler darstellt), lieber. (Ein naturalistischer Geschmack ist kein Cha­rakter­fehler.)
    Allerdings deutet die Reaktion des erwähnten, geschätzten Rom-Besuchers an, dass die Plastik jenes ele­gan­te Spiel mit dem Staunen des Kunstfreunds doch nicht so stark inszeniert – oder erst obendrein, nachdem der überraschte Betrachter eben den fast rasenden Apollo, die verzweifelt sich in die Verwandlung rettende Daphne und das erstaunliche Schauspiel der Metamorphose anschaulich erlebt hat. Und dann wäre gegen Berninis Selbstherrlichkeit angesichts der herrlichen Skulptur gar nichts zu sagen. Man sollte sie sich an­schauen. (Ich beneide den Rom-Besucher.)

Bertolt Brecht
der zweifler

immer wenn uns
die antwort auf eine frage gefunden schien
löste einer von uns an der wand die schnur der alten
aufgerollten chinesischen leinwand, sodass sie herabfiel und
sichtbar wurde der mann auf der bank, der
so sehr zweifelte.

ich, sagte er uns,
bin der zweifler, ich zweifle, ob
die arbeit gelungen ist, die eure tage verschlungen hat.
ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige wert hätte.
ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
auf die wahrheit verlassen habt, dessen, was ihr gesagt habt.

… wer seid ihr? zu wem
sprecht ihr? wem nützt es, was ihr da sagt? und nebenbei:
lässt es euch nüchtern? ist es am morgen zu lesen?

… aber vor allem
immer wieder vor allem andern: wie handelt man
wenn man euch glaubt was ihr sagt, vor allem: wie handelt man?

[zitiert nach: Bodo Plachta, »Editions­wissen­schaft«, 3., erg. u. akt. Aufl., Stuttgart 2013, S. 109]
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