18. Februar 2020: Einige Bemerkungen (die als kurze geplant waren) zu drei Texten (von denen zwei ziemlich kurz sind), die ich in letzter Zeit (zu Ende) gelesen habe:
Heinrich Manns
Die kleine Stadt
hatte ich aus dem Tauschschrank am Neumarkt geholt (in der »Studienausgabe in Einzelbänden«, die Peter-Paul Schneider
herausgegeben hat – Frankfurt am Main: Fischer, 7. Aufl. 2003
–, die aber dem Text von Band 6 der »Gesammelten Werke«, ediert von der Akademie der Künste der DDR im Aufbau-Verlag, folgt; Bearbeiter dieses Bandes war Gotthard Erler), weil es zu den Werken des Bruders gehört, gegen die Thomas Mann in den
Betrachtungen eines Unpolitischen anschreibt. Diese Ausgabe hat eine nützliche kleine Materialsammlung im Anhang (S. 459–483), bestehend hauptsächlich aus Briefzitaten, die Schneider zusammengestellt hat. Auch das kurze
Nachwort (S. 431–446)
von Helmut Koopmann ist einfühlsam und informativ; für 9,90 Euro hat man seinerzeit eine brauchbare Edition erhalten (sie ist sogar noch lieferbar, jetzt für 20 Euro, aber der Verlag bietet z. Z. vier verschiedene Ausgaben an, es ist ein bisschen unübersichtlich). – Meine Anmerkungen (vom 22. Februar) sind ziemlich lang, ziemlich lückenhaft und stehen
ziemlich weit unterhalb.
Édouard Louis,
Wer hat meinen Vater umgebracht?, Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
der
2019 bei
Fischer erschienenen
Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel; das Original,
Qui a tué mon père?, wurde
2018 von Éditions du Seuil in Paris publiziert. – Die Notizen dazu sind nicht zu lang geworden und stehen unter dem
Datum vom 19. Februar.
Herman Melville, Bartleby, in der guten Penguin-Ausgabe »Billy Budd, Bartleby, and Other Short Stories«, New York 2016, mit einer wirklich literaturkritischen, kundigen, wohldosierten Einleitung von Peter Coviello.
Die Abfolge macht ein gewisses Bedürfnis nach Kontrasten sichtbar, auch wenn wieder einmal kein Werk der art pour l’art dabei ist. Nun, es ist heute etwas spät geworden und die Noten zu Heinrich Mann und Édouard Louis (aus dessen Werk werde ich bloß eine Passage zitieren) sind noch nicht fertig; aber die (gänzlich überflüssigen) zu
Bartleby veröffentliche ich jetzt noch, denn wenn ich eine Nacht darüber schliefe, würde ich mich wohl nicht mehr trauen. Warum? Die Geschichte hat nicht gerade nötig, von mir ›interpretiert‹ zu werden … Aber es ist eine von den Geschichten, aus denen der Leser etwas machen muss, die er nur achselzuckend weglegen könnte, wenn er nicht ein bisschen daran herumgrübelt, die er aber nur dann fade finden kann, wenn er das Pech hat, sie auf Anweisung eines Lehrplans unter Anleitung fader Deutschlehrer ›interpretieren‹ zu müssen … Hier also die Klausur, die ich im Gymnasium glücklicherweise nicht zu schreiben hatte, naja, das Schmierblatt dazu:
Bartleby ist auch einer von den Texten, die berühmt dafür sind, dass sie den Versuch anzugeben, was der Autor damit habe sagen wollen, ad absurdum führen (den Versuch, mit so einer Angabe anzugeben, auch, ja). Coviello spricht ein paar Lesarten an, von denen mich die ‚queere‘ vielleicht am wenigsten überzeugt … aber auch dieser Aspekt ist da (und nicht nur von anderen Werken Melvilles nahegelegt), Bartleby will den Erzähler, seinen Chef nicht verlassen, der weiß nicht recht, woher seine Rührung eigentlich kommt – das hätte man früher ›latent erotisch‹ genannt, aber andererseits, welche menschlichen Beziehungen sind das nicht, gerade von den merklich ambivalenten? Soweit macht Melville die Dinge bloß nicht eindeutiger, als sie sind. Ein bisschen distanzierter stellt Coviello die Interpretation vor, nach der Melville in beiden Figuren das Schreiben und Aspekte des Schriftstellerdaseins thematisiert, räumt aber ein, dass der Erzähler gleich zu Beginn über den literarischen Wert von Bartlebys Leben reflektiert. Ich fand spätestens die vom Erzähler angebotene Hintergrundgeschichte ziemlich deutlich: Bartleby soll, und das sei kaum mehr als ein Gerücht, zuvor in einer für unzustellbare Sendungen zuständigen Poststelle, dem „dead letter office“ gearbeitet haben (p. 54). Und diese mögliche Vorgeschichte ist eine, die sich als passend, als erhellend aufdrängt … respektive eine Interpretation, die sich anbietet. Ich komme darauf zurück.
Was einfach nicht funktioniert, ist das Um- oder Fortschreiben der (nennen wir sie:) »Occupy-Wall-Street«-Interpretation, wonach Bartleby den ausgebeuteten Lohnarbeiter der Bürowelt repräsentiert, Chaplins ›Tramp‹ als Angestellter in etwa, der unter der entfremdeten Arbeit leidet – man wird nicht bestreiten wollen, dass diese Arbeitsbedingungen geeignet sind, einen Menschen zu verbiegen (wozu er vorher nicht gerade gewesen sein muss), aber auch nicht, dass der Zusammenhang in der Erzählung nicht entwickelt wird. Coviello möchte Bartleby nicht nur Opfer sein lassen und macht ihn also rüstig: „… If the extremity of his employer’s response is any apt measure, it is fair to say that Bartleby takes his estrangement from the compulsory servility of wage labor and, effectively, weaponizes it.“ (p. xvii) Nun, Bartleby verhält sich – anders als seine Kollegen Turkey und Nippers, wenn sie im Funktionsmodus sind – sehr bald nicht mehr servil, aber er setzt sein Verhalten nicht als Instrument ein, nicht als Waffe, er hat keine Kontrolle darüber. Sonst wäre sein Chef auch gar nicht ›entwaffnet‹.
Stattdessen würde ich versuchsweise in der Interpretation von Bartlebys Opferrolle noch viel weiter gehen: Ganz unverhohlen hat Bartlebys Wirkung auf den Anwalt (für die Wirkung kommt es darauf an, wie dieser dessen enigmatisches Gebaren auslegt) religiöse Züge und Ausmaße, spätestens seit jenem Sonntag Morgen, da der Anwalt sich zur Trinitatiskirche aufmacht „to hear a celebrated preacher“ (p. 32), nur um dann den einsamen Bartleby in seinem Büro anzutreffen und aufgehalten zu sein: „I did not accomplish the purpose of going to Trinity Church that morning. Somehow, the things I had seen disqualified me for the time from church-going.“ (p. 35) Warum aber? Erregt Bartleby nicht des Anwalts Mitleid, ja verschüttete Gefühle der Menschenliebe? Der Erzähler wird sich nicht schrittweise, sondern in unverbundenen Momenten der Erschütterung klar darüber, dass Bartleby etwas in ihm bewirkt, was ein noch so geschickter Prediger nicht hätte bewirken können, und wenigstens diese Wirkung spricht er – besonnen und reflektiert, wie er ist, und auch mit selbstverliebter Aufrichtigkeit ausgestattet – völlig deutlich aus: „But when this old Adam of resentment rose in me and tempted me concerning Bartleby, I grappled him and threw him. How? Why, simply by recalling the divine injunction: ‚A new commandment give I unto you, that ye love one another.‘ Yes, this it was that saved me.“ (p. 43) Aber wer hat ihn gerettet, den alten Adam in ihm besiegt, so wie das zu geschehen pflegt und immer geschehen ist, bloß für den Moment? Wer hat ihm in diesem Moment das bündige neue Gebot eingegeben? Machen wir es kurz: Bartleby, das Lamm, der Erlöser.
Wenn man die so angedeutete Lesart noch ein gutes Stück weiter durchhalten und auf einige Einzelheiten mehr ausdehnen kann, wird die Erzählung auch darin nicht zur Erbauungsliteratur. Die Zerknirschung des Anwalts geht längst nicht weit genug, Bartleby vergibt ihm am Ende auch nicht, denn er weiß, was sie, einschließlich dessen, der sich nun sein Freund nennt, mit ihm gemacht haben, und er weiß, dass sie es wissen. Einen gewissen Charme gewinnt diese Interpretation, nach der der Erzähler sich, höchstens halb bewusst, bemüht, Bartleby einige der sanften Züge des Erlösers zuzuschreiben, eigentlich erst, wenn man sich wieder erinnert, dass er der Schreiber ist (nein: sein könnte), der es zu lange mit toten Buchstaben (nein, nein: Briefen!) zu tun hatte. Der Schriftsteller als Erlöser des aufmerksamen, einfühlsamen Lesers, der sich die Geschichte schließlich selbst erzählen muss? Das wird nicht Melvilles Ernst sein, sondern bloß ein schelmischer Gedanke „at which good-natured gentlemen might smile“ – aber einer, den ich dem Autor von Bartleby (der sich über seine Leser gar keine Illusionen zu machen scheint) schon zutraue.
Mir gefällt die Idee (meine und eventuell auch seine, die sicher dritte nach ihm, jedenfalls vor mir hatten) und an der Geschichte gefällt mir auch, dass ich keine Ahnung habe, was es mit Bartlebys Vermögen, die Leute das Wort „prefer“ gebrauchen zu lassen, auf sich hat (es sei denn, es wäre ein Zeichen und Wunder der Macht … des Dichters?), wie man die mythisch mit dem Zentralgestirn verbundenen Doppelcharaktere der älteren Angestellten und die bemerkenswerteren Umstände von Bartlebys Dasein in der Kanzlei (die Blicke aus den Fenstern zumal) mit der Lesart verbinden sollte, was man wohl tun müsste, wenn man etwas literaturwissenschaftlich oder auch nur für den Deutschunterricht Brauchbares abliefern wollte. „I prefer not to.“ (Dann wird es wohl nicht für eine 4 reichen.)
Was ist übrigens ein ›Klassiker der Weltliteratur‹? Sofern ein Autor gemeint ist (Melville ist einer, kein Zweifel), macht man es sich, indem man einer solchen Einordnung in den Kanon zustimmt, doch längst nicht zur Pflicht und Aufgabe, alle seine Werke zu lesen (seine frühen Romane
Omoo und
Typee zum Beispiel — bitte mal die Hand heben? … Sag ich doch. Es gibt Ausnahmen wie antike Schriftsteller, von denen nicht viel erhalten ist … und Shakespeare halt), solange es sich um einen Schriftsteller in einer fremden Sprache handelt. Bei den Autoren der eigenen Sprache, die man dazu zählen möchte (die Weltliteratur ist je nach Land recht verschieden), ist das ein bisschen anders. Man hat wenigstens das Bedürfnis nach Werkausgaben (oder gilt das nur noch für die bedrohte Gattung der Germanisten?). Ach, das hat eh nur noch Sinn für gedruckte Bücher, denn ein Klassiker ist mindestens nicht mehr ganz jung, eher bald siebzig Jahre tot, und dann kann man ihn digital in Erstausgaben oder in Ausgaben letzter Hand lesen, sogar ohne schlechtes Gewissen. Bei Heinrich Mann ist das mit Ablauf des Jahres so. [Morgen also etwas über »Die kleine Stadt«. Dann eliminiere ich sicher auch noch ein paar Tippfehler.]
Heute (19. Februar 2020) ist mir beim schweifenden Nachdenken über Louis’ Büchlein Kracauers Ginster in den Weg geraten. Ich frage mich, welchen Fiktionalitätsgrad man dem Text von Louis zuschreiben soll und warum er nicht eine fiktionalisierte Biografie seines Vaters geschrieben hat (dazu müsste man den Text natürlich zuerst mit En finir avec Eddy Bellegueule von 2014 vergleichen, das habe ich aber nicht gelesen, Ginster schon). Louis schreibt (anscheinend) sehr direkt von seinen Erinnerungen an seinen Vater, damit auch viel über seine eigene Kindheit. Er scheint aus der Fantasie nicht mehr hinzuzutun, als das in Erinnerungen, Kindheitserinnerungen ohnehin geschieht. Aber es geht ihm um das ganze Leben seines Vaters. Nur weiß er nicht viel davon, und das hat viele Gründe, von denen einige mit dem Charakter dieses Lebens zu tun haben.
Wer ›plötzlich‹ mit der Erwartung konfrontiert wird, zur Feier des fünfundsiebzigsten, achtzigsten, neunzigsten Geburtstags seines Vaters oder seiner Mutter ein paar Worte zu sagen, hat sich vielleicht eingestehen müssen, dass er diese Person, über die er sprechen soll, nicht kennt, nicht weiß, was sie geprägt hat, wie sie aufgewachsen ist, wie sie sich in ihrer Jugend ihr Leben vorgestellt hat, wie sie zu einem Partner, zum ersten Kind gekommen ist. Natürlich könnten die Eltern erzählt haben, mehr als nur ein paar in der Familie beliebte Anekdoten, die Kinder könnten gefragt haben, Vater oder Mutter könnten sich biografisch gerechtfertigt haben. Vielleicht hatten sie Lust, die Kinder an ihrer Jugend teilhaben zu lassen, an der Zeit, als die noch nicht dabei waren. Das wird wohl auch vorkommen.
Häufiger, normaler scheint der Fall zu sein, dass Kinder wenigstens mit einem Elternteil, meistens dem Vater, nicht viel reden oder jahrelang gar nicht. Und sich Jahrzehnte später fragen, ob sie jetzt noch damit anfangen sollen, ob es sich noch lohnt, ob die alten Leute es noch aushalten. Der Vater des Erzählers (von dem der Autor sich mit keiner Andeutung distanziert) in Louis’ Text ist ein ›einfacher‹, ›ungebildeter‹ Arbeiter. Und er ist, das darzustellen ist Louis’ Ziel, gefangen in seiner Idee von Männlichkeit. So ein Mann spricht nicht viel von sich, er wüsste auch kaum wie; vielleicht lässt er manchmal die Frau erzählen, wie er damals war.
Der Sohn ist anders. Je mehr sie miteinander sprechen müssten, desto weniger können sie es tun. Der Junge wünscht sich, sein Vater würde verschwinden, oder wenigstens soll sein Auto nicht vor dem Haus stehen, wenn er von der Schule nachhause kommt. – Louis macht die Distanz verständlich, ihre Vergrößerung, um sich dann dem Leben seines Vaters wieder zu nähern. Das ist nicht originell. Und die »einfachen, schwierigen Verhältnisse« (wie es im Wikipedia-Artikel mit unfreiwilligem Oxymoron heißt) aus denen der Autor stammt, sind auch schon wiederholt geschildert und überdies trist (aber in seiner Erzählung nicht farblos, nicht monoton; ohnehin: kann man gegenüber den Widrigkeiten im Leben eines aufgeweckten Kindes jemals gleichgültig bleiben?). Louis will auch nicht nur einen Beleg für Theoreme von Bourdieu oder Eribon liefern – freilich kann man sich Leser vorstellen, die sein Büchlein lesen (»Du kaufst meine Bücher, du verschenkst sie nach links und nach rechts«, sagt er S. 76 von seinem Vater, der sich verändert hat), die Eribon oder Bourdieu (oder »Das Kapital«) nie lesen würden, nicht lesen können, die Louis aber verstehen, denn man lernt aus Literatur leicht, was man irgendwie schon wusste, unnötig ist das gar nicht – sondern er will in guter französischer Intellektuellentradition anklagen: Chirac, Sarkozy, Hollande, Macron und ihre Finanz- und Sozialminister. (Das ist es letztlich auch, wofür sein Vater ihn auf die Schule geschickt hat, gibt er zu verstehen. Und hat nicht ein Mann die Aufgabe, seinen Vater zu rächen?) Es gelingt ihm ganz gut; ich halte es nicht für die größte Qualität des Buches, nicht weil es Politik ist, sondern weil es vielleicht nicht ausreicht, Macrons Sozialpolitik anzuklagen, weil der Vater nämlich nicht nur die fünf Euro der monatlichen Mietbeihilfe verdient hätte, die Macron gekürzt hat (während er die Vermögenssteuer gesenkt hat). Es hat mich überrascht, dass Louis so wenig über die Wurzel des Übels sagt. Aber Gymnasiasten und Studenten stehen nicht in der Fabrik neben den Vätern (es gehen immer noch nicht alle ins Büro) und sind nicht dabei, wenn das Unglück geschieht; das ist ein Grund.
Trotzdem sagt Louis ganz bemerkenswerte Dinge über das Politische im Privaten. (Jetzt kommt endlich das versprochene Zitat und dann bin ich gleich fertig.)
»Einmal wurde im Herbst die jährliche Unterstützung, die jede Familie erhielt, um Schulsachen für die Kinder kaufen zu können, Hefte, Schultaschen, um hundert Euro erhöht. Du warst verrückt vor Freude, du riefst im Wohnzimmer: ›Wir fahren ans Meer!‹, und wir stiegen zu sechst in unseren Wagen, einen Fünfsitzer – ich in den Kofferraum, wie die Geisel in einem Spionagethriller, ich liebte das.
Der ganze Tag war das reinste Fest für uns.
Bei denen, die alles haben, habe ich nie gesehen, dass eine Familie ans Meer fährt, um eine politische Entscheidung zu feiern, denn für sie ändert die Politik so gut wie gar nichts. […] Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren. […] Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. […]« (S. 71f.)
Mehr Louis zu lesen könnte sich lohnen, deucht mir (möglichst auf Französisch, denn mir gefällt auch diese sehr direkte Sprache), Eribon vielleicht auch [und Annie Ernaux, von der sie so zu schreiben gelernt haben dürften]; von Bourdieu denke ich das schon länger, schon seit vor dem Fall der Mauer … »Du warst beim Fall der Mauer schon über zwanzig, und ich ersann den ganzen Tag lang Fragen, die ich dir stellen wollte: Kanntest du jemanden, der die Mauer noch gesehen hatte, […]«, S. 31f. Ich habe noch Fotos, richtige Fotos von 1988 von der intakten Mauer. Dem Alter nach könnte ich der Vater sein, der tote.
Schließlich (22. Februar 2020) wie versprochen noch ein paar Anmerkungen und Fragen zu dem Roman »Die kleine Stadt« von Heinrich Mann, der als durchdachte, wohlkomponierte epische Großform natürlich eine gründlichere Untersuchung erfordern würde, wenn ich ihm irgendwie gerecht werden wollte. Stattdessen will ich nur wenige Überlegungen mitteilen, naja eher ausbreiten (in der Hoffnung, dass sie besser sind als nichts, ich bin damit noch gar nicht zufrieden), die mir in den Sinn gekommen sind, weil ich ab und zu über die Formen und Möglichkeiten des politischen Romans im 20. Jahrhundert nachdenke – eine ganze Reihe der literarisch bedeutenden Romane dieses Zeitraums sind ja unbestreitbar politisch, beispielsweise auch Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« (oder der kürzlich erwähnte »Ginster« Kracauers, der übrigens von einem Mann ohne Eigenschaften handelt). Ich meine, wie man sieht, nicht nur Werke, bei denen sich die bewussten oder separat geäußerten Wirkungsabsichten ihrer Autoren im Politischen (wie immer das dabei begriffen wird) erschöpfen. Im Augenblick würde ich ungefähr sagen, ich meine literarische Werke, die geeignet sind, das politisch-gesellschaftliche Selbstverständnis ihrer (zeitgenössischen) Leser zu beeinflussen. Das ist natürlich vage, muss es aber auch sein, weil eine solche Wirkung nicht messbar, kaum jemals eindeutig feststellbar ist. ¹
Im Fall der »Kleinen Stadt« hat der Autor beim Erscheinen 1909 betont, es handle sich um ein politisches Buch, und einer der ersten aufmerksamen und kompetenten Leser, sein Bruder Thomas, stimmt ihm darin zu, lange bevor er sich über politische Fragen mit Heinrich entzweit. Heinrich hat, um dem schleppenden Verkauf und dem geringen Verständnis bei der Kritik aufzuhelfen, einen kurzen Werbe-»Prospekt« verfasst, der mit hallenden Worten schließt: »Man höre hin: was hier klingt, ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zustrebt. Dieser Roman, so weitab er zu spielen scheint, ist im höchsten Sinn aktuell.« (S. 474) ²
Der Bruder Thomas hatte mit seinem Brief vom 30.9.1909 das Stichwort geliefert: »Das Ganze liest sich wie ein hohes Lied der Demokratie, und man gewinnt den Eindruck, daß eigentlich nur in einer Demokratie große Männer möglich sind. Das ist nicht wahr, aber unter dem Eindruck Deiner Dichtung glaubt man es.« (S. 464) Thomas hat des Bruders Absichten verstanden, stimmt aber mit den Thesen und der Tendenz nicht überein; Heinrich bekräftigt sie im »Prospekt« mit Nachdruck.
Man könnte nun diese Selbstinterpretation zusammen mit der in dem offenen Brief an die Rezensentin Lucia Dora Frost (erschienen in »Die Zukunft«, 18. Jg., Nr. 21, 19.2.1910, S. 265f.; Koopmann benutzt ihn im Nachwort; im Materialanhang ist er S. 479–481 wiedergegeben, danach zitiere ich mit dem Kürzel oB) ganz gut zum Leitfaden einer zweiten Lektüre machen, denn wenn der Autor auch kein besserer Interpret seines Werkes ist als ein denkbarer Leser, so kennt er vermutlich sein Buch doch ganz gut – und in diesem Fall wird die Selbstinterpretation noch vom Zeugnis des Bruders gestützt, der ein ziemlich kompetenter Leser ist. Versuchen wir es. Der große Mann, nach den Maßstäben der kleinen Stadt, den die Demokratie möglich macht, ist zweifelsohne Advokat und Lokalpolitiker Belotti: »Wenn ich auf Etwas in diesem Buch stolz bin, so darauf, daß der Advokat Belotti, lächerlich, wie er ist, seine tragische Stunde erlebt; daß er nicht aufhört, ein Kirchturmpolitiker zu sein, während in ihm Etwas wie die Verkürzung eines großen Mannes entsteht.« (oB, S.479) Worin liegt seine Größe? Er kämpft für den Fortschritt, er wirkt nicht nur in der Demokratie, sondern fördert sie, setzt sie durch, führt das Volk im Geist der Brüderlichkeit zu höherer Menschlichkeit – irgend so etwas muss es sein, das kann man schon dem »Prospekt« und dem offenen Brief entnehmen.
Was geschieht konkret im Roman (der sich jetzt ein bisschen wie ›die Wirklichkeit‹ zur Theorie zu verhalten beginnt)? Belotti hat im Stadtrat durchgesetzt, dass ein auswärtiges Ensemble engagiert wird, damit unter der Leitung des ortsansässigen Kapellmeisters Dorlenghi im alten Schlosstheater die berühmte Oper eines großen Nationalkomponisten, ›Die arme Tonietta‹, aufgeführt werden kann. Dieser Beschluss wurde bereits gefasst, bevor die Handlung einsetzt, in der ersten Szene (der Ausdruck passt ganz gut auf Teile des handlungssatten Romans) sehen wir führende Herren der Stadt (exklusive der eigentlichen Oberschicht der Grundbesitzer) auf dem Marktplatz im Café »Zum Fortschritt« (der also zuerst in etwas lächerlicher Gestalt ins Bild gelangt) sitzen und parlieren, während sie die Ankunft dieser Truppe erwarten. Die Kirche, vertreten durch den Dompriester Don Taddeo, hatte vorläufig vergeblich opponiert.
Bald erfahren wir noch, dass Belotti auch dafür gesorgt hatte, dass die Stadt ein erstes Elektrizitätswerk errichtet, eine große Investition, die er gegen seinen (nur) haushälterisch denkenden Gegenspieler, den Gemeindesekretär Camuzzi, vehement als zum Fortschritt gehörig verteidigt (S. 17f.). Eine andere neue öffentliche Einrichtung, die es ohne den Einsatz des Advokaten nicht gegeben hätte, das Waschhaus, spielt später eine Rolle, weil diese Mühewaltung ihm, nicht zu Unrecht, Sympathien im ›einfachen Volk‹ eingebracht hat.
Der Konflikt, in dem Belotti sich bewähren muss, entzündet sich aber nicht an den Infrastrukturinvestitionen der Stadtgemeinde, die Bürger geraten vielmehr über die Opernaufführung in Wallung, Zank und schließlich in gewaltsame Fraktionskämpfe. Don Taddeo hört nicht auf, bei den Kirchgängern, vor allem den Kirchgängerinnen des Ortes gegen die Unmoral Stimmung zu machen (respektive die Gewissen aufzurütteln), die mit den »Komödianten« Einzug gehalten hat. Die Ereignisse geben ihm reichlich Anlass, denn Künstler und Kleinstädter nehmen sich schon im ersten Auflauf bei der Ankunft der Postkutsche gegenseitig als erotisches Freiwild wahr. Die zahlreichen vor-, außer- und nachehelichen Beziehungen, die sich anbahnen, sind nicht nur Nährboden der Leidenschaften, der Begierden, der Eifersucht, des Neides – alles in allem sind sie auch eine zeitweise Befreiung. Belotti, der als Student in Perugia mit Schauspieler(inne)n der Oper verkehrte, erinnert sich im Café an die Choristinnen … und die Herren um ihn, größtenteils Familienväter, freuen sich recht einmütig darauf, dass es »lustig« wird, wenn die Künstler erst angekommen sind (S. 15). Zum Fortschritt, das macht Belotti freilich nicht explizit zum Programm, gehören gewisse moralische Lockerungen. Die Handlung erkennt sozusagen an, dass sich die Opposition der Kirche de facto nicht nur engstirnig gegen die Kunst und ihre Freiheit richtet, sondern dass der von ihr behauptete Zusammenhang zwischen dieser Freiheit und Libertinage besteht. Der Advokat muss also meinen, dass aus der (zeitweisen?) Lockerung der Sexualmoral der bürgerlichen Ordnung kein Schaden entsteht. Sprechen die Geschehnisse nicht ganz und gar dagegen? – Heinrich Mann stellt jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Politik, zwischen Sexualmoral und Fortschritt her, er stellt ihn sogar deutlich heraus. (Thomas geht später in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« darauf ein – das Thema ist ihm ja keineswegs fremd …)
Besteht Belottis (leicht lächerliches, kleinformatiges) Heldentum nur darin, aus dem Durcheinander, das er angerichtet hat, sich wieder heil herauszuwinden? – Im ›offenen Brief‹ erklärt Mann, er habe sich die Aufgabe gestellt, eine mehr als hundertjährige Entwicklung (man könnte Zivilisation sagen, im prozesshaften Sinn) komprimiert darzustellen; erstaunlicherweise zieht er als Vergleich eine langfristige Wirkung von Rousseaus »Contrat social« heran, den er als philosophischen Roman (eigentlich bloß als »Traum eines Romanciers«), nicht als Werk der Wissenschaft behandelt. Und in ihm sieht er ein Ideal zum Ausdruck gebracht, das Menschen begeistern kann, ja er meint sogar, dass das französische Volk (auch einstweilen stellvertretend fürs italienische) »auf der Grundlage des Traumes vom
Contrat social, mit keiner anderen Begründung« »in vielen Anläufen ein jedesmal weniger verzerrtes Bild der Freiheit und Gerechtigkeit aufgestellt hat« (oB S. 480). Passt das überhaupt mit dem Roman Heinrich Manns zusammen? Offenbar nur, wenn man sich die Wirkungsmomente des »Contrat social« aufgespalten denkt: Hie der Stichwortgeber, der die Ideen von 1789 (oder die Garibaldis, darauf kommt es in der großen Perspektive nicht an) verkündet, zwar in recht platter Form, aber unermüdlich, der aber allein wenig Enthusiasmus zu erregen, zu unterhalten vermag – dort die Kunst, in der Gestalt der Oper, die Musik der ›Armen Tonietta‹ (»Bewegung und Tätigkeit, das ist alles, und das lehrt uns die Musik des Maestro Viviani«, sagt der Advokat, S. 225), die die nicht allzu raffinierten, aber tief menschlichen (»Ein ganzes Volk hält sich umschlungen und verbrüdert sich«, kommentiert der Literat Ortensi, S. 170) Ideen des Librettos, darunter die Treue!, den Herzen der Hörer und Zuschauer einschreibt. Und auf einer anderen Ebene der ›Traum des Romanciers‹ Heinrich Mann von einer unmittelbaren Wirkung seiner Kunst auf die politischen Verhältnisse im deutschen Kaiserreich …
Aber noch einmal: Was bewirkt Belotti, abgesehen davon, dass sich nach dem großen Krach alle wieder vertragen? Im Roman hängt der glückliche Ausgang, die große Versöhnung doch auch davon ab, dass Don Taddeo aus Leidenschaft erst zum Mordbrenner wird und anschließend – auch heldenhaft – versucht, das Schlimmste zu verhüten und den Rest wieder gut zu machen. Dass also die moralische Autorität der Kirche von innen zersetzt wird. Sind in Don Taddeos schwachem Geist die Ideen der Aufklärung wühlend wirksam geworden? Nein, er erliegt nur seinen Trieben, der an sich menschlichen Schwäche, der allzu lange unterdrückten Natur (hat die Aufklärung ja immer gesagt; eine junge Frau, die vor dem Schicksal bewahrt werden soll, eine Nonne werden zu müssen, gibt es übrigens auch) … solange, bis – nicht der positive Glaube, aber der an die Nächstenliebe doch noch siegt. Und in dieser Liebe zu den Menschen sind sich Belotti und Don Taddeo dann einig.
Alles schön und gut (ein bisschen zu gut, um episch richtig schön zu sein vielleicht, aber kleinere Tragödien enthält das Buch ja auch). Nur wie kommt die Demokratie ins Spiel? Der Advokat plädiert für die Freiheit, nicht an erster Stelle für die Ordnung. Er bekämpft den Gesinnungsgegner, aber es bleibt selbstverständlich, dass es die anderen Fraktionen gibt, dass die Handwerker ihre Interessen vertreten wie die Bauern, die Arbeiter und wie die ›aufgeklärten Bürger‹, die wohlhabenden Freiberufler und höheren Beamten. So selbstverständlich, dass es nicht gesagt wird, ja in der Unordnung glatt vergessen werden könnte, auch vom Leser. Belotti kämpft (meistens) mit offenem Visier, seine Waffe ist (meistens) das Wort. Seine Gegner intrigieren, lügen, heucheln (kräftiger), drohen (auch mit dem Teufel), erpressen, schrecken vor der Anstiftung zum Mord nicht zurück.
Die Klassen der Gesellschaft der kleinen Stadt zanken sich, auch im Theater, aber sie kommen zusammen, sie begegnen sich, sie hören sich und manchmal hören sie sogar alle gleichzeitig zu (das allein reicht aber nicht: Sie treffen sich nicht im Fußballstadion, dort auf der Bühne des Theaters wird ihrer aller Sache, die der Menschheit halt, verhandelt …). Das Theater verkörpert die Prinzipien der Gemeinschaft und der Öffentlichkeit, und man tendiert, wenn man diese Verkörperung betrachtet, wohl dazu, erstere auf letztere zu reduzieren, lieber nicht an schmutzig-materielle Elemente von Gemeinschaft und Brüderlichkeit (doch, man könnte auch Geschwisterlichkeit sagen) zu denken … na, man darf schon daran erinnern, dass dieser Aufschwung des öffentlichen Lebens auch dem lokalen Schneiderhandwerk zu Gute kommt, das vorzeigbare Garderoben anzufertigen hatte, den Bürgerfleiß also belohnt und anstachelt (S. 229f.).
Alles in allem: Die politischen, sozialen, ökonomischen Verhältnisse, die der Roman skizziert, sind recht altbacken – und die Ideale nicht auch? Der ›Zusammenhalt‹ der Gemeinde wird auf die Probe gestellt vom Streit über eine Theateraufführung; ja, die Bürger tragen sie unter sich aus, der Unterpräfekt hält sich (im mutmaßlichen Gegensatz zu einem preußischen Landrat oder Regierungspräsidenten) heraus. Man kann Meinungsverschiedenheiten über die Leistungen von Schauspielern zensurfrei in Journalen dem Publikum vortragen, wie erfreulich. Das Gewerbe scheint nicht so entwickelt, dass man über Reklame sprechen müsste (und den Einfluss der Inserenten auf den redaktionellen Inhalt). Die Sozialordnung bereitet in ihrer geradezu ständischen Stabilität und Selbstverständlichkeit niemandem Sorge, die Grundbesitzer sind in der Hauptsache am bunten, demokratischen Treiben in der Stadt unbeteiligt, zumal die Fürstin, die gnädig geruht hat, das Schlosstheater zur Verfügung zu stellen. Belotti ist übrigens der Sachwalter der Fürstenfamilie; das dürfte seine Haupteinnahmequelle sein, darüber muss man aber nicht reden. Vielleicht ist es ganz gut, dass der Advokat nicht von Demokratie spricht, sondern vom Fortschritt, denn letzterer manifestiert sich unleugbar auch im elektrischen Licht, erstere wäre kaum mehr als eine Phrase (unterschätzen wir die Phrasen nicht).
So verwunderlich ist es also gar nicht, wenn Thomas Mann irgendwo (ich muss noch nachsehen) eine Verwandtschaft zur ›demokratischen‹ Tendenz seines Romans »Königliche Hoheit« konzediert. Es geht um Sitten, um Zivilisation, um die Anerkennung von nicht mehr länger zu leugnenden gesellschaftlichen Tatsachen. (Das ist nicht sonderlich zukunftsweisend, aber auch nicht völlig überholt; Demokratie muss man heute noch so spielen und man kann heute noch leicht hinter die nötige Zivilisationsstufe zurückfallen, man kann sogar nicht nur …) Um Geschmacksfragen: Thomas mag den Advokaten nicht, der sich dem Volk bequem macht, er hält es (in den »Buddenbrooks«, IV.3) mit dem Patrizier, der der Menge entgegentritt, wohlwollend, aber nicht ohne Verachtung, wenn sie Politik, gar Revolutschon (dumm Tüg!) machen will. Der Roman ist aber nicht schlecht, weil Heinrich Manns politisches Programm veraltet und unzulänglich ist; er ist sogar dennoch auch als politische Literatur ziemlich gut, weil man am Modell der ›Kleinen Stadt‹ allerhand studieren kann. Weil darin die Möglichkeit vorkommt, dass Belotti scheitert (wie förderlich es ist, dass er schon der Spannung halber scheitern können muss, dass es beinahe hart auf hart gehen muss, um seinen Mut herauszukehren!), dass seine Gegenspielerin Oberhand gewinnt, die den skrupellos ehrgeizigen, halbtalentierten Savezzo engagiert, der nicht als Dunkelmann geboren ist, aber sich dazu eignet, der den ›Mittelstand‹ aufhetzt, den Demagogen spielt, nein, in der Kleinstadt übt … und weil er dort einstweilen scheitert, eine größere Bühne sucht. Das weist, gegen die Wirkungsabsichten und leider, weiter in die (italienische und deutsche) Zukunft voraus.
Gut ist das Buch auch als Kunst- und Künstlerroman. Da hat er es nicht nur mit den »Buddenbrooks« zu tun und mit »Königliche Hoheit«, sondern auch mit dem 1911 verfassten »Tod in Venedig«. Zwei Mal Italien, zwei Mal Musik, einmal eine aufstrebende, problematische, aber seinem Volk verbunden bleibende Puccini-Figur (»Mein junger Kapellmeister, seine glühende Sehnsucht, Musik für ein ganzes Volk zu ersinnen, ist meine Anschauung des werdenden Puccini: meinen Roman hätte ich sonst nicht geschrieben«, S. 462, sagt Heinrich viel später in »Ein Zeitalter wird besichtigt«), dort der alternde, einsame (eben deshalb so gefährdete, würde Heinrich sagen, vielleicht nur so ein großer Musiker, meint Thomas), strenge deutsche Komponist, der tief fällt; im Hintergrund Verdi gegen Wagner. Hier ein Künstler, dort eine Gruppe von Künstlerfiguren, allesamt auf eigene und gemeinsame Art problematisch, bürgerlich, bis auf den Familienvater und treuen Freund Gaddi, wenig verlässlich – aber getragen von der Begeisterung des Publikums, weitergetragen von seinen Erwartungen … dazu eine etwas mystische, etwas spukhafte Gestalt, ein ehemaliger, vergessener, um den Verstand gekommener Schauspieler, beinah ein Dorfnarr, Brabrà, älter noch als der Cavaliere Giordano, auch dieser ehemals gefeiert, geadelt, aber ein geschminkter Alter. »Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke«, halt, pappappapp, das ist nicht der Cavaliere, dieser Geck begegnet Aschenbach auf dem Dampfer nach Venedig! Und bei Heinrich stirbt schließlich der junge Tenor, er wird von seiner jungen, starken, aber zweifelsohne weiblichen Geliebten erstochen – alles ganz anders!
[Ich fürchte, diesen Text sollte ich noch ein paar Mal überarbeiten, nicht nur der Lücken wegen.]
1 Koopmann zitiert (ohne eine unmittelbare Quelle nachzuweisen) im Nachwort eine sehr starke Passage aus einem Dialog, »Können Dichter die Welt ändern?«, den Gottfried Benn 1930 für den Rundfunk geschrieben hat: »Sie wollen also sagen: Die Penthesilea ist eine große Dichtung, aber sie hat nicht die geringste Wirkung ausgeübt, weder politisch noch sozial noch in der Bildungsrichtung. […] Genau das will ich sagen. Und ferner, daß vor unseren Augen das Beispiel der nächsten großen deutschen Dichtung nach Penthesilea, nämlich Die kleine Stadt von Heinrich Mann, genau so wenig irgendeine Wirkung ausgeübt hat, nicht einmal eine stilistische. Man kann es nicht anders ausdrücken: Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe.« (S. 432f.) Warum ihre Größe gerade in der Wirkungslosigkeit liegen müsste, weiß ich nicht, aber man wird nennenswerte Wirkungen von Kunstwerken (nicht von anderen Tätigkeiten von Künstlern) kaum ad oculos demonstrieren können. – Benns Wertung der Kleinen Stadt ist, davon abgesehen, frappierend.
2 Der Verleger, der Insel-Chef Anton Kippenberg, hat genau diese Zeilen abgeändert zu: »Es braucht nicht ausgeführt zu werden, inwiefern dieser Roman, so weitab er zu spielen scheint, im höchsten Sinn aktuell ist.« (S. 475) Wenn Kippenberg das ernst gemeint hat, wäre die direkt politische Bedeutung des Buches, jedenfalls des inhaltlichen Kerns seiner stofflichen Anlage, ganz offensichtlich. [zurück]
Heinrich Steinfest kann man den Erfolg mit diesem Buch und mit anderen Werken nicht mehr nehmen, was aber auch gar nicht meine (von Hybris durchtränkte) Absicht wäre. Das Buch liest sich spannend, Steinfest kann schreiben und formulieren, man erfreut sich an hübschen Interieurs in der Krimihandlung (etwa der Schilderung, wie der Vater des Inspektors Suppe löffelt und ein Brot sorgfältig gemäß der Bedeckungstheorie belegt) und mit diesem Kriminalinspektor Lukastik ist ihm eine überzeugende Figur gelungen, der der Leser mal mit Skepsis, mal mit Belustigung, aber immer mit dem nötigen Grad an Sympathie begegnen kann. Eine geradezu chandlereske atmosphärische Spannung erzeugt Steinfest dadurch, dass er Detektiv und Leser rasch ahnen lässt, es sei um die psychische Gesundheit mancher Figuren nicht zum Besten bestellt. Aber dann spielt er klugerweise mehr mit den Erwartungen eines Chandler-Lesers und inszeniert nicht in der österreichischen Provinz (in der gleichwohl ein „Sanatorium“ situiert sein kann) häufigere und heftigere Entladungen der Gewalt, die in der Luft zu liegen scheint, als das lokale Klima erwarten lässt.
Man kann auch nicht sagen, dass der Autor das Genre des Kriminalromans (in dem sich nicht nur der Detektiv der Aufklärung widmen soll) nicht der Struktur nach ernst nimmt: Dem typischen anfänglichen Rätsel, wer den Mord begangen habe, fügt er das auch nicht ungewöhnliche Rätsel hinzu, wie die Tat denn begangen worden sein könnte (so haben das schon Arthur Conan Doyle und Agatha Christie mit schönem Erfolg gehandhabt). Und die erste dieser beiden Standardfragen wird auch beantwortet, zur inneren Befriedigung Lukastiks, der mit Wittgenstein (Tractatus, 6.5) der Auffassung ist, es gäbe keine wirklichen Rätsel.
Die Beantwortung der zweiten Frage allerdings erfordert im Roman so etwas wie einen zweiten Schluss und in diesem Teil (S. 250-317) macht die Erzählung auf Wahrscheinlichkeit nicht mehr viel Anspruch (das war auch vorher nicht ihr Hauptmerkmal, aber dabei wurde allenfalls küchenpsychologische Stimmigkeit strapaziert), um es milde zu sagen. Da gibt es einen wahnsinnigen Bestattungsunternehmer samt Ehefrau und Assistenten, der für gute Kunden aufwendige Tötungen auf Verlangen inszeniert, aber bei der Identitätsprüfung schludert, eine Crowd postmoderner Jugendlicher, die eben jener Tötung (obwohl es nicht viel zu sehen gibt) tatenlos zusehen, eine Grotte unter einem Hochhausbau der 70er Jahre, deren Existenz vertuscht worden ist, wohl um die Bewohner jenes Hochhauses nicht ›unnötig‹ zu beunruhigen, obwohl man einen Fahrstuhl bis dort unten gebaut hat und in Betrieb hält (man muss halt den geheimen Code kennen, der andererseits im Namen einer Website leicht verschlüsselt vorliegt …), und in jener Grotte Lebewesen einer Spezies, die da nicht hingehört und die deswegen genetisch verändert worden sein muss, was bei einer italienischen Chemiefirma in den 60er Jahre geschehen sein könnte, worauf mindestens zwei unausgewachsene Exemplare bei einem Flugzeugabsturz in ein Wiener Bächlein und von dort irgendwie …
Damit wird Lukastiks offenbar nicht mehr moderne Auffassung von der prinzipiellen Aufklärbarkeit der Fragen, die sich der Kriminalpolizei stellen können, sozusagen widerlegt. Es ist aber fad, einer ›realistisch‹ gestellten Frage auf ›fantastische‹ Weise eine Antwort zukommen zu lassen, die allerhand Rätselhaftes einschließt, heraufbeschwört, konserviert. Das Mysteriöse dringt ins Bewusstsein moderner Städtebewohner dann so ein, wie es wohl – nüchtern betrachtet – eindringen muss, nämlich gar nicht: Wer etwa schon zu glauben bereit ist, die Behörden (Wiens) hätten nichts Besseres zu tun, als irgendwem irgendwie (politisch?) unangenehme Entdeckungen (›Fakten‹) zu vertuschen und das wäre bei Dutzenden von Mitwissern, die man gar nicht zur Geheimhaltung verpflichten kann, ein aussichtsreiches Unterfangen und üblich, der wird auch an einem solchen Kriminalromanschluss nichts Anstößiges finden, vielleicht seine Freude daran haben. Aber daran ist einiges fischig.
Schimmelbuschs Buch hat andere Absichten, hier geht es (direkter) um satirische Zeitdiagnose, und wer möchte bestreiten, dass unsere Gegenwart die nötig hat. Der Autor schildert einen Investmentbanker in fast schon mittleren Jahren (geschiedener Vater einer Tochter, der er ergeben ist, Teilhaber eines hochspezialisierten, ertragreichen Finanzunternehmens), der sich noch im Jahr 2017 darüber wundert, dass nach der »Finanzkrise« hierzulande keine ernsthafte Diskussion über die Verteilung des Vermögens aufgekommen ist. (Wir erinnern uns, es wurde kurz über die Begrenzung von Managergehältern gesprochen, aber man musste schnell einsehen, dass es wenig Zweck hat, Eigentümer resp. Shareholder resp. deren Repräsentanten, also andere Manager, daran hindern zu wollen, noch für den Ruin ihrer Firmen Millionenprämien zu vergeben.)
Schimmelbuschs ganz und gar nicht tumber, sondern analysestarker Banker, der sich im heimatlichen Frankfurt immer weniger heimisch fühlt, weil es sich so arg nach den Regeln verändert hat, die seinesgleichen vorgegeben haben, ist, wie mir scheint, ein entfernter Verwandter von Delius’ Held der inneren Sicherheit. Beide stehen der ›Macht‹ (nicht jener, die auch im Jahr 2019 mit dem geneigten Leser dieser Homepage sein möge, sondern eher der, die seinerzeit in »Welt im Spiegel« Schnödes Mammon genannt zu werden pflegte) nahe genug, um dem kleinbürgerlichen Leser Einblicke zu gewähren in Sphären, in die er auch durch die Buchung eines Wochenendschnäppchens im Adlon nicht wirklich vorstößt.
Während F. C. Delius aber seinen Helden in wenigstens scheinbar dramatischen Zeitläuften (im pathetischerweise nicht nur von einem Hamburger Nachrichtenmagazin, das für Allerlei zu haben ist, immer noch so genannten »Deutschen Herbst«¹) an einer konfliktreichen Position installieren konnte (als Zuarbeiter eines Arbeitgeberpräsidenten, dessen möglicherweise dauerhafte, sagen wir, Verhinderung Vorbereitungen ausgreifender Personalrochaden veranlasst), muss Schimmelbusch ein bisschen Handlung ganz aus der Psyche eines Selbst-schon-ziemlich-Mächtigen entwickeln, dem außer dem Abdriften in einen 800-Euro-die-Flasche-Alkoholismus wirklich nichts droht. Also muss er uns wohl oder übel mit den ausschweifenderen Ambitionen seines Protagonisten bekannt machen; einerseits einer von informierter Nationalnostalgie nicht ganz freien Schriftstellerei (leider ist die Lektorin eines deutschen Buchweltkonzerns nicht so leicht herumzukriegen wie ein Bundesfinanzminister), andererseits einer Programm werdenden politischen Allmachtsfantasie von ungebremstem Schaum. Schimmelbusch mutet uns das auf Wirkung kalkulierte Pamphlet ungekürzt zu; eigentlich schön ist das nicht. Seit ein paar Jahren, speziell seit der letzten Bundestagswahl weiß man freilich, dass selbst Parteiprogramme, die von vielen narzisstisch Gekränkten auf einmal am Wirtshaustresen ausgeheckt worden zu sein scheinen, ein Stück weit (wie weit, wissen wir noch nicht) in Realität umschlagen können. Schimmelbusch kann sich, zumal in satirischer Absicht, also ein ordentliches Maß an Zumutung und dann auch an Fantastik erlauben, wenn er fünfzehn Jahre in die Zukunft zu blicken vorgibt, dann doch noch die historisch offenbar zu irgendetwas notwendigen, diesmal radikalmarktliberalen Terroristen zuschlagen lässt … ein deutsches U-Boot taucht auch noch auf … naja, wenn ich das so aufschreibe, klingt es stofflich vielleicht ein bisschen provinziell (Deutschland ist trotz Wiedervereinigung kleiner geworden), aber doch ganz amüsant, oder? Delius ist besser, kontrollierter, seiner Mittel stärker bewusst, vielleicht klüger, er wahrt ein dem Leser angenehmeres Gleichgewicht zwischen Geschehnissen und Reflexionen, muss nicht alle Einfälle loswerden, aber aus Schimmelbusch kann als Schriftsteller (Investmentbanker war er schon) auch noch etwas werden, und wenn man ihm quantifizierbare Anreize geben will, sollte man das Buch kaufen (und dann auch lesen, der Grenznutzenmaximierung wegen).
1 Das hatte ich, offen gestanden, so dahingeschrieben, ohne einen Beleg im Sinn zu haben. Eigentlich habe ich es jenem unsinkbaren Flaggschiff des deutschen Qualitätsjournalismus, dessen zahlender Passagier ich nicht bin, bloß zugetraut. Tatsächlich hat man, wie rasches Googlen zeigt, in der Hansestadt im Jahr 2017 ein Jubiläumsheft (Nr. 35) zu den Ereignissen produziert, dessen Titelseite neben, unter anderem, einer gezeichneten Wiedergabe des Porträts des entführten Managers unter dem fünfzackigen Symbol der Entführer und einer Pistole die Parole »40 Jahre Deutscher Herbst« ziert. Vielleicht hätten sich die Mitglieder der terroristischen Vereinigung, die dem gewerblichen Journalismus so viel auftriebssicheren Stoff geliefert haben, die Wortmarke schützen lassen sollen. Aber die haben, unter anderem, zu wenig an die Altersvorsorge gedacht.
16. Mai 2017, ergänzt und korrigiert am 18. und 20. Mai (Vorsicht, lang!)
Heinz Rein:
Finale Berlin, mit einem Vorwort von Fritz J. Raddatz, Frankfurt am Main u.a. 2015 (Büchergilde Gutenberg, Lizenz Schöffling & Co.), 1. Aufl. dieser Ausgabe 1980, EA 1948
Obwohl ich schon vor geraumer Zeit einige an sich bemerkenswerte Beobachtungen am Text des ›Romans‹ von Heinz Rein gemacht habe, fällt es mir schwer, meine Eindrücke auszuformulieren und zu fixieren. Das liegt daran, dass ich nicht recht weiß, welche Schlüsse aus diesen Befunden zu ziehen wären, weder für die Bewertung des Romans (nun, man wird sehen, dass mir dieser Eintrag darüber mehr Klarheit verschafft hat) noch für die Gattung, der er angehört, überhaupt.
Ich möchte keine Inhaltsangabe geben; Rein will die Schlacht um Berlin und die Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland schildern. Er erzählt zu diesem Zweck die Geschichte einer kleinen Gruppe von Oppositionellen (im Kern Sozialdemokraten und Kommunisten), auf die ein politisch völlig unerfahrener junger Deserteur Mitte April 1945 im Zentrum von Berlin stößt. Die Geschichte ist im Ganzen ein bisschen unwahrscheinlich; die wenigen Akteure tun und erleben gar zu viel in den paar Tagen bis zur Kapitulation von Groß-Berlin Anfang Mai. Um den dokumentarischen Einsprengseln (in Form von Zeitungs- und Rundfunkzitaten) und den langen Reden der politisch geschulten älteren Leute etwas entgegenzusetzen, das eine Romanhandlung ausmachen kann, schreckt er auch vor Spannungseffekten des Kriminalromans nicht zurück (womit dem Deserteur Gelegenheit gegeben wird zu zeigen, dass es ihm keineswegs an Mut fehlt …). Dagegen ist nicht viel zu sagen, die Handlung erlaubt dem Autor auch, gesellschaftlich und politisch ganz unterschiedlich lokalisierte Personen ins Geschehen zu ziehen, karrierebewusste Angestellte in Ministerien, Polizisten mit unterschiedlichen Aufgaben und Gesinnungen, Privatleute, die zäh am Glauben an Führer und Endsieg hängen, und viele ›einfache Berliner‹, die mit heiler Haut davonkommen möchten und darauf warten, dass es vorbei ist.
Hat der Roman als solcher auch seine Schwächen, so ist er doch von der ersten bis zur letzten Seite eine faszinierende Lektüre. Die Mischung aus Narration und Dokumentation erzeugt beim Leser – gerade in der Kombination mit der politischen Reflexion der Figuren, die man ihnen abnimmt – das Gefühl, mitten im Geschehen zu stehen (wenngleich glücklicherweise als unverwundbarer Beobachter); man erfährt so viele Details sowohl aus dem Alltagsleben der späten Kriegsjahre als auch über die schwer vorstellbaren Kampfhandlungen mitten in Berlin, dass man schon aus Neugier viele Seiten des dicken Buches rasch verschlingt.
Fiktive Handlung hin oder her, die Wirkung des Buches beruht (zumal bei den Nachgeborenen) zu einem großen Teil auf diesem Eindruck der Authentizität, um den der Autor auch wesentlich bemüht ist, wie man an den wörtlichen Zitaten aus Reden und Leitartikeln, an den präzisen Ortsangaben und daran sieht, dass die Handlung sozusagen den Frontverlauf immer genau berücksichtigt. Genau deshalb gibt es zwei Problemfelder, die beide mit der Genese des Textes, mit den Zeitumständen zu tun haben, aber auf unterschiedliche Weise.
Den ersten Komplex spricht Raddatz in seinem Nachwort (zur neuen Auflage 2015 der Neuausgabe von 1980) an. Er spricht umstandslos von ›sachlichen Fehlern‹, die mit der Eile bei der Abfassung zu erklären wären (S. 754f.). Raddatz wird sich für das kurze Nachwort auch nicht viel Zeit genommen haben, er urteilt jedenfalls schlicht nach historischem common sense: »… natürlich standen im April 1945 der deutschen Luftwaffe keine Stukas mehr zur Verfügung, die im Buch noch scharenweise in den Kampf um Berlin eingreifen und massenweise Zivilisten in den Tod bomben. Es gab ja nicht mal mehr Benzin für die Kradmelder.« Ganz so einfach ist das nicht, mindestens bis Mitte März hat die Luftwaffe gelegentlich noch hochmoderne Arado-Düsenbomber eingesetzt (gegen die Eisenbahnbrücke über den Rhein bei Remagen); Flugzeuge waren, im Gegensatz zu Benzin und Piloten, ohnehin noch reichlich vorhanden. Man liest (ohne völlig verlässliche Quellenangaben) auch noch von Luftwaffeneinsätzen während der »Schlacht um die Seelower Höhen« ab 17. April. – So leicht lassen sich Schlachtendetails halt nicht aufklären; dieser angebliche Stuka-Einsatz in der Landsberger Chaussee (S. 588f.) klingt besonders spektakulär und dabei auch ein bisschen wie nach dem Hörensagen beschrieben (welche Quelle käme sonst dafür in Frage? Er hat nicht am nächsten Tag in der Zeitung gestanden …). Ähnliches kann man über die (ebenfalls außerhalb der eigentlichen Handlung berichtete) Sprengung des Karstadt-Gebäudes am Hermannplatz (S. 589-591) sagen oder über die Flutung des S-Bahn-Tunnels unter dem Landwehrkanal (S. 592f.; Wolfgang Schneider schreibt dazu in der FAZ-Rezension des Romans vom 7.5.2015: »Die Flutung des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn wird vom 2. Mai auf den 25. April verlegt und als apokalyptische Katastrophe beschrieben, als perfider Massenmord an den vielen Menschen, die dort Zuflucht vor den Kämpfen suchen. Aber bis heute ist umstritten, ob durch die Flutung überhaupt Menschen umkamen.«).
°
RNZ
Liest man dazu Wikipedia-Artikel und sonstige Internetquellen, gewinnt man den Eindruck, dass das Geschichten waren, die in der mündlichen Überlieferung in der Stadt schnell die Rolle von Kristallisationspunkten gespielt haben mögen: sozusagen als Miniaturen, die den ganzen Irrsinn der Schlacht und der Zerstörung der Stadt überhaupt erzählbar machen (in Varianten werden sie sicher noch lange forterzählt werden). Rein setzt sie auch ein, um immer wieder eindeutig die Schuldigen zu benennen und sie als rücksichtslose Verbrecher (auch gegenüber dem eigenen Volk) zu denunzieren. Genau scheinen sich die Abläufe bei speziell diesen Vorgängen nicht mehr klären zu lassen; in gewisser Weise hat Rein ganz recht, die Verantwortung der Nazis dafür herauszustreichen, während eine Art Unschuldsvermutung der abwägenden Darstellungen in der Wikipedia dann vergleichsweise bizarr wirkt.
Aber jeder Ankläger riskiert (das ist eine Lehre der Rhetorik, nicht der Geschichte) sehr schnell die Glaubwürdigkeit seiner Beschuldigungen, wenn er es mit den Tatsachen nicht so genau nimmt. – Der Sache mit dem vermeintlichen deutschen Luftangriff auf flüchtende Zivilisten in der Landsberger Chaussee hoffe ich irgendwann noch nachgehen zu können; es wäre schön, Rein in diesem Punkt rehabilitieren zu können oder wenigstens irgendeine Gewissheit zu erlangen.
Gravierender als nicht mehr belegbare und im Roman zwangsläufig unbelegte Einzelheiten (freilich, die Geschichte ist die Summe der einzelnen Geschehnisse …) scheinen mir die Veränderungen zu sein, die der Text zwischen 1947 und 1980 erfahren hat, und über die der heutige Leser nur ganz unzureichend unterrichtet wird. In der Titelei liest man bloß, die Neuausgabe folge »der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg von 1980, ›die vom Autor überarbeitet und verbessert wurde.‹« Anführungszeichen deuten eine Distanzierung von dieser Bemerkung an, worin die aber bestehen könnte, lässt sich nicht ausmachen. Raddatz geht im Nachwort nicht auf die Veränderungen ein, er erwähnt nur sicherheitshalber, dass ihm die Büchergilde-Ausgabe von 1980 vorliege (S. 754). Claus-Ulrich Bielefeld vermerkt in einer Rezension in der
Literarischen Welt vom 18.4.2015, S. 2: »Leider wird vom Verlag nicht mitgeteilt, warum man diese Fassung der ursprünglichen Fassung von 1947 vorgezogen hat.«
Diese Frage hat es in sich. 1980 wird die Antwort, was den Verlag angeht, schlicht darin bestanden haben, dass der Autor es so wollte, und vielleicht geht es aus rechtlichen Gründen (der Autor mag Entsprechendes letztwillig verfügt haben o. dgl.) auch 2015 noch nicht anders. Motive dafür, warum der Autor (auch der Verlag?) aber nicht einfach die Originalfassung wieder auflegen lassen wollte, kann man erkennen, wenn man den allgemeinen Charakter dieser Änderungen feststellt.
Das ist weder außerordentlich schwer noch ganz einfach. Nicht ganz einfach, weil es 1947 einen Vorabdruck in der
Berliner Zeitung gab (sagt im Augenblick noch der Wikipedia-Artikel zu Heinz Rein, tatsächlich beginnt der Vorabdruck schon 1946, s. Anmerkung unten) und im gleichen Jahr die erste Buchausgabe bei Dietz in Berlin erschien – durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass es Unterschiede zwischen dem Vorabdruck und dem Buch gibt. Wenn man es aber nicht darauf abgesehen hat, eine vollständige Textgeschichte zu ermitteln,¹ dann kann man sich leicht in einer größeren Bibliothek ein Exemplar der Dietz-Ausgabe ausleihen und vergleichen, denn, wie der Wikipedia-Autor schreibt, »das Buch erreichte 1951 eine Auflage von 100.000 Exemplaren und zählte zu den ersten Bestsellern der deutschen Nachkriegszeit.« Es gab sogar schon Anfang der 50er Jahre (offensichtlich allerdings gekürzte) Übersetzungen ins Englische und Polnische.
Die Universitätsbibliothek Mannheim besitzt ein Exemplar der ersten Buchfassung, das auf dem Verso des Titelblatts präzise Informationen bietet: »Für Erich Weinert | Geschrieben Dezember 1945 | bis März 1947 | 51.–60.Tausend | Copyright 1948 by Dietz Verlag GmbH, Berlin · Printed in Germany · Alle Rechte | vorbehalten · Gestaltung und Typographie: Dietz-Entwurf · Veröffentlicht unter | Lizenz-Nummer 341 der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland […]«. Man sollte vielleicht registrieren, dass der Autor für seine Schilderung keine strikte Unmittelbarkeit beansprucht: Zwischen den Ereignissen und dem Beginn der Niederschrift des Romans wäre demnach ein gutes halbes Jahr verstrichen.
Dieses Exemplar hab ich nun mit der oben genannten Ausgabe von 2015 verglichen, nicht Zeile für Zeile, aber doch so, dass ich die Mehrzahl der Seiten wenigstens quergelesen und mir die Umgebung von auffallenden Änderungen genauer angesehen habe; für inhaltlich relevante Varianten sollten meine Beobachtungen einigermaßen repräsentativ sein.
Rein hat den Text nicht durchgehend stilistisch überarbeitet. Als stilistische Änderung kann man aber die häufigen Kürzungen von Zitaten aus Zeitungen (Berliner Morgenpost, Das Reich, Angriff) werten, man vergleiche exemplarisch 1948 S. 42-45 mit 2015 S. 49f. Einige dieser Änderungen dienen offensichtlich und wohl ausschließlich der Straffung des Textes, die Nazi-Tiraden sind tatsächlich so hohl, dass durch die Streichungen nicht viel verloren geht.
Anders verhält es sich vielleicht mit folgender Kürzung einer dem Anschein nach in beiden Fassungen vollständigen Wiedergabe eines Beitrags von Robert Ley im
Angriff, 21.4.1945 (1948 S. 433-435, 2015 S. 462f.). 2015 fehlen folgende Sätze: »Was wäre aus dem deutschen Volke geworden, wenn die Vorsehung uns diesen Mann nicht geschenkt hätte? So die Frage stellen, heißt, sie bereits beantwortet zu haben.
Wäre Adolf Hitler nicht gekommen, wäre heute das deutsche Volk gar nicht mehr da. In Mitteleuropa würde ein bolschewistisches Chaos herrschen und ein völlig verarmter, arbeitsloser, hungernder Haufen von vertierten Menschen würde von jüdischen Kommissaren ausgebeutet und versklavt sein. Die Masse der deutschen Nation wäre längst auf die Hälfte dezimiert, und was übrigblieb, wäre so kraftlos und physisch und seelisch so verdorben, daß man nicht mehr von einem Volke reden könnte. Dann wären bereits Millionen deutscher Männer und Frauen auf kaltem Wege nach Sibirien abtransportiert.
Dann wäre alles das bereits zur Tatsache geworden, was sie uns jetzt täglich prophezeien. Allerdings hätten wir dann keinen Krieg, weil wir zu schwach wären, um uns zu wehren. Wir hätten aber viel Schlimmeres: Wir hätten den sicheren Tod. […] Wir sind – dank der Standhaftigkeit des Führers – im Spiel geblieben, und wir werden weiter im Spiel bleiben. […]« (der Satz
Wäre Adolf Hitler nicht … auch 2015, aber nicht hervorgehoben). – Die Interpretation dieser Streichung ist heikel, und ohne eine vollständige Übersicht über die Varianten möchte ich mich darauf nicht einlassen.
Später sind Anspielungen der NS-Autoren auf die Erwartung, dass sich die Westmächte früher oder später gegen die Sowjetunion wenden müssten, nicht mehr wiedergegeben (vgl. 1948 S. 560-562 mit 2015 S. 598f. und die Wiedergabe eines Leitartikels von Otto Kriegk in der
Nachtausgabe, 1948 S. 570f., 2015 S. 608f.). – Einen zwingenden Grund für solche Streichungen sieht man nicht, immerhin tangieren sie die politische Aussage des Romans bereits.°°RZ2
Nun wird eine der Hauptfiguren, der Widerstandskämpfer Wiegand, an der Stelle, an der seine politische Geschichte eingeführt wird, quasi entstalinisiert:
»Das habe ich ja nun kapiert«, sagt Lassehn und stimmt in das Lächeln der Männer ein, »Sie leben in legaler Illegalität. Weshalb aber leben Sie illegal?« |[61] »Auch das sollen Sie erfahren, Herr Lassehn«, sagt Wiegand mit einigem Widerstreben. »Ich bin früher Gewerkschaftssekretär gewesen, bin später zur RGO gegangen …« »Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, fährt Lassehn dazwischen und sieht Wiegand fragend an. »Was ist das, RGO?« »Ach so«, meint Wiegand nachsichtig, »ich vergaß, daß Sie ja ein politischer Säugling sind, bei dem man eigentlich ab ovo beginnen müßte, aber das würde heute wohl zu weit führen. Die RGO, daß heißt Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition, war der radikale linke Flügel der sozialdemokratischen Gewerkschaften, von denen Sie wahrscheinlich auch nichts wissen oder nur das, was Robert der Ley über seine torkelnde Zunge gebracht hat, aber darüber sprechen wir ein andermal. Ich ging also zur RGO und war an einigen Streiks, wie ich wohl sagen darf, hervorragend beteiligt. Als unser liebwerter Parteigenosse, Ministerpräsident und Forstmeister Hermann Göring am achtundzwanzigsten Februar neunzehnhundertdreiunddreißig den Reichstag ansteckte, da bin ich zum ersten Male festgesetzt worden. […]«
(1948 S. 60f.)
»Das habe ich ja nun kapiert«, sagt Lassehn und stimmt in das Lächeln der Männer ein, »Sie leben in legaler Illegalität. Weshalb aber leben Sie illegal?« »Auch das sollen Sie erfahren, Herr Lassehn«, sagt Wiegand mit einigem Widerstreben. »Ich bin früher Gewerkschafts-|[66]sekretär gewesen und war an einigen Streiks, wie ich wohl sagen darf, hervorragend beteiligt. Als unser liebwerter Parteigenosse, Ministerpräsident und Forstmeister Hermann Göring am achtundzwanzigsten Februar neunzehnhundertdreiunddreißig den Reichstag ansteckte, da bin ich zum ersten Male festgesetzt worden. […]«
(2015 S. 65f.)
Überraschenderweise wird die RGO-Vergangenheit (man lese sich bei Bedarf über die »Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition« schlau) Wiegands später in der Neuausgabe doch erwähnt (1948 S. 200, 2015 S. 211).
Die wichtigsten Unterschiede betreffen aber nicht die Vergangenheit und den Charakter der Figuren – der stramme Kommunist Schröter etwa, der immer noch Vorbehalte gegen Sozialdemokraten und Bürgerliche hat, wird auch in der Originalausgabe als schroff und ein bisschen engstirnig geschildert. Ganz anders jedoch fallen in beiden Versionen die Bilder von den ›Befreiern‹ aus. Ein erstes Mal heißt es 2015 auf S. 588 von flüchtenden Berlinern: »Sie ahnen nicht, daß ihre Habseligkeiten und ihre Frauen Beute der Sieger werden.« Der Satz fehlt 1948.
Im nächsten Absatz (1948 S. 550f.) fehlt 2015 folgender Text: »[…] die Söhne des siegreichen Volkes. Die Menschen, die der Wahnsinn irrsinniger Politiker und verantwortungsloser Militärs aus ihren Wohnungen auf die Landstraße gestoßen hat, blicken zuerst scheu auf die, die sie bisher ihre Feinde genannt haben, sie drücken sich dicht an die andere Straßenseite, als müßten sie eine Berührung mit den Soldaten in den grau-grünen Uniformen meiden, aber sie werden bald gewahr, daß die Sieger keine Soldaten mit grausamer Herrschergebärde sind, sie lachen, singen, spielen Mundharmonika, winken und rufen unverständliche Worte in ihrer gutturalen Sprache, sie haben offene und verschlossene, freundliche und mürrische Gesichter, viele sind überraschend blond und helläugig, andere sind fremdartig dunkel und haben schräg |[551] sitzende Augen, aber alle haben die breiten, derben, vertrauenerweckenden Hände von Arbeitern und Bauern, und alle tragen sie den roten Stern mit Sichel und Hammer an ihren Mützen. Aus dem Rufen und Winken wird ein Zutrauen, und bald wandert manch ein Brot von der einen auf die andere Seite, wird ein Kind auf den Arm genommen und gleiten schwielige Hände über Knaben- und Mädchenscheitel. Die Ausgestoßenen atmen auf, zwar haben sie kaum mehr als das Leben gerettet, aber es ist warm und hell, und die feindlichen Soldaten sind Menschen wie du und ich, eine Ahnung von Frieden zieht in die verstörten Gemüter und die verängstigten Herzen.
Da tönt von irgendwo, […]« (dieser Absatz wieder in beiden Ausgaben gleich, s. 2015 S. 588).
Noch prägnanter fällt der Unterschied bei der Schilderung der ersten Begegnung der Protagonisten mit sowjetischen Soldaten aus:
Wiegand holt tief Atem und geht auf den russischen Soldaten zu. »Towarisch«, sagt er mit bewegter Stimme und streckt ihm die Hand hin.
Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzieht er die Lippen zu einem breiten Lächeln, das die Zähne bloßlegt.
»Towarisch«, antwortet er und ergreift Wiegands Hand.
(1948 S. 694)
Wiegand holt tief Atem, dann klettert er gewandt durch das Mauerloch und geht auf den russischen Soldaten zu.
»Towarisch«, sagt er mit bewegter Stimme und hebt die Hände hoch. Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzieht er die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln und antwortet: »Nix Towarisch. Gib Uri. Dawai!«
(2015 S. 743)
Nach solchen Erfahrungen wundert man sich dann kaum noch darüber, dass Wiegand sozusagen im Jahre 2015 1945 schon klüger war als im Jahr 1948, im Gegensatz zum linientreuen Kommunisten:
1948 S. 701, Überschrift »… und neuer Anfang«
2015 S. 749 »Der neue Anfang?«
Langsam steigen Dr. Böttcher und Wiegand die Stufen einer breiten Treppe empor, […] (1948 S.701)
Langsam steigen Dr. Böttcher, Wiegand und Schröter die Stufen einer breiten Treppe empor, […] (2015 S. 749)
»[…] und ich verspreche Ihnen, dabei zu helfen, soweit es in meiner Macht steht. Die Rote Armee ist nicht als Feind des deutschen Volkes nach Berlin gekommen.« Der Major macht eine Pause und blickt auf den Feldwebel, dessen Feder eilig über das Papier gleitet.
(1948 S.702)
»[…] und ich verspreche Ihnen, dabei zu helfen, soweit es in meiner Macht steht. « »Davon bin ich fest überzeugt, Genosse Major!« ruft Schröter. Dr. Böttcher und Wiegand schweigen. Der Major blickt auf den Feldwebel, dessen Feder eilig über das Papier gleitet.
(2015 S. 750)
Den Höhepunkt erreicht die Neubewertung der Situation vom Mai 1945 am Ende des Romans:
[…], taumeln Soldaten mit stumpfen Mienen und glanzlosen Augen zu den Sammelstellen.
Dr. Böttcher schaudert zusammen, als er sich Wiegand zuwendet.
»Es ist fast zu schwer,« sagt er.
»Wir werden es schaffen«, entgegnet Wiegand.
»Wir müssen es schaffen«, setzt Lassehn hinzu.
Dann gehen sie die Treppen hinunter. Auf der Straße weht ihnen ein feiner, dünner Regen entgegen. Sie schlagen die Mantelkragen hoch und gehen in die zerstörte Straße hinein. An der Ecke hält gerade ein Lautsprecherwagen. Er verkündet die Kapitulation.
– Ende –
(1948 S. 703)
[…], taumeln Soldaten mit stumpfen Mienen und glanzlosen Augen zu den Sammelstellen, gellen die Schreie der vergewaltigten Frauen aus den Häusern.
Dr. Böttcher schaudert zusammen, als er sich Wiegand zuwendet. »Es ist fast zu schwer,« sagt er. »Diese Schreie werden uns noch lange verfolgen …«
»Ach was!« fällt ihm Schröter ins Wort. »Du siehst zu schwarz.«
»Wäre zu schön, wenn es so wäre«, sagt Wiegand. Seine Miene drückt Skepsis aus.
Dann gehen sie die Treppen hinunter. Auf der Straße weht ihnen ein feiner, dünner Regen entgegen. Sie schlagen die Mantelkragen hoch und gehen in die zerstörte Straße hinein. An der Ecke hält gerade ein Lautsprecherwagen. Er verkündet die Kapitulation.
(2015 S. 750)
Die Tendenz dieser Änderungen ist also völlig klar: Rein wollte 1980 (damals ist der Text der Bearbeitung zum ersten Mal gedruckt worden) die sowjetische Eroberung und Besatzung nicht mehr als Befreiung darstellen, er wollte nicht mehr zur Zusammenarbeit mit den Sowjets aufgerufen haben und er hat mit ziemlich kleinen Retuschen sogar ausgedrückt, dass er von der Idee der Zusammenarbeit aller ›fortschrittlichen‹ Kräfte
einschließlich der Kommunisten abgerückt ist.
Nur hat er damit, dass er diese ›Verbesserungen‹ nicht kenntlich gemacht und darüber keine Rechenschaft abgelegt hat, seinen Text, der immer noch einen offensichtlichen Anspruch auf historische Authentizität erhebt, schlicht gefälscht. So gut das Bild, das er nun von den Besatzern und Teilen der KPD malt, mit dem übereinstimmt, was man 1980 und heute so glaubt und zu wissen meint, so wenig scheint die Schilderung dieser neuen Züge von den eigenen Erlebnissen und früh gewonnenen Einsichten des Zeitzeugen Rein gedeckt zu sein, denn sie steht zu dem, was er
damals gesagt hat, im Widerspruch.
Klar, die Anspielungen auf Massenvergewaltigungen und Plünderungen werden kaum 1947/48 in der
Berliner Zeitung gestanden haben²; hätte sich dergleichen im Manuskript befunden, wäre es in der Zeitung ebenso wenig gedruckt worden wie im Buch, das mit Lizenz der Sowjetischen Militäradministration erschienen ist. Kann man sich vorstellen, dass Rein 1945 bis 47 ein Manuskript geschrieben hat, das inhaltlich der Fassung von 1980 besser entsprochen hat? Schwerlich, denn dann hätte er es 1980 gesagt und nicht von ›Überarbeitung und Verbesserung‹ gesprochen (oder sprechen lassen). Ein Buch, das Geschichte nach unmittelbarer eigener Anschauung schildern und nacherlebbar machen will, wird aber davon nicht besser, dass man die Ereignisse 35 Jahre später stillschweigend uminterpretiert und sich im Faktischen plötzlich besser erinnert.
Sieht man von der 1947 in die Zukunft weisenden politischen Botschaft ab (die damals freilich alles andere als nebensächlich war), dürfte der Wert des Buches, der schon ganz wesentlich in der Vermittlung von Wissen und einem Werturteil besteht, gar nicht geschmälert sein: Auch wenn Rein seine Figuren oft und viel reden lässt, um Fakten über Kriegsereignisse, typisches Geschehen in Nazideutschland usw. anzubringen, auch wenn er das dokumentarische Material spürbar um seiner selbst willen einstreut, bleibt sein Roman doch in dem Aspekt ›authentisch‹, dass er zeigt, wie Geschichtsbuchfakten bei Individuen ›ankommen‹ und von ihnen verarbeitet werden.
Was Rein im Einzelnen über die Ereignisse sagt, fügt sich nun auch gut ins Bild, das viele andere Dokumente und Zeugnisse zeichnen; gerade ›Endphaseverbrechen‹ wie beispielsweise die Hatz auf tatsächliche und vermeintliche Deserteure (eigentlich ›Volksgenossen‹) sind in den letzten Jahrzehnten minutiös rekonstruiert worden. Rein kommt 1980 nicht auf den Gedanken, die Nazis zu entlasten, sein eigener Text und die Quellen würden das unmöglich hergeben. Sein Buch steht in der Fassung seit 1980 in dieser Hinsicht aber nicht anders da als irgendein historischer Roman: Der Leser ist aufgefordert zu prüfen, was der Dichter ihm sagen will, ebenso wie er das mit dem Werk eines einzelnen Historikers machen müsste. Nur würde der es ihm mit den Belegen und dem Anmerkungsapparat in mancher Hinsicht leichter machen.
So fragt sich noch, ob diese Aufgabe nicht vom Verlag hätte übernommen werden sollen. Eine in textkritischer und historischer Hinsicht sozusagen auskommentierte Edition hätte ihre Reize, würde aber, zumal da man den Vorabdruck berücksichtigen und nach dem Manuskript suchen müsste, den Rahmen einer Romanausgabe für Romanleser sprengen (und sich der Form und des Preises halber wohl schlechter verkaufen … in diesem Jahr ist auch noch ein Ullstein-Taschenbuch erschienen …). Was Schöffling oder die Büchergilde aber sehr wohl hätten tun können, würde ungefähr dem entsprechen, was der Aufbau-Verlag bei der Neuauflage von Falladas
Kleiner Mann – was nun? auf sich genommen hat: Man hätte 2015 die Ausgaben vergleichen sollen! Und danach hätte höchstwahrscheinlich alles dafür gesprochen, die originale Buchausgabe wieder aufzulegen und die Bearbeitungen von 1980 in Anmerkungen zu verbannen. Falls das (sagen wir aufgrund einer testamentarischen Verfügung) nicht möglich gewesen wäre, hätte man der neuen Auflage von 2015 ein Nachwort beifügen müssen, das über den Charakter der Änderungen usw. informiert (zur Not halt nicht ganz so umfassend und gut, wie das Claus Gansel beim
Kleinen Mann gemacht hat). Vielleicht bekommen wir irgendwann doch eine halbwegs ›kritische‹ Ausgabe, die germanistische Literaturwissenschaft ist dazu ja durchaus imstande und auch zuständig, wenn Schneider Recht behält mit seinem Urteil: »Finale Berlin hat jetzt seinen festen Platz in der Geschichte der deutschen Literatur.« (FAZ-Rezension, 7.5.2015)
Ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben, und auch darüber, dass ich über die unscheinbare Angabe zu den Änderungen gestolpert und ihnen ein Stück weit nachgegangen bin. Beides war lehrreich.
¹ Die
Berliner Zeitung ist bis einschließlich Jg. 1993 digitalisiert und diese Jahrgänge sind über die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz online zugänglich (http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/). Man kann so schnell feststellen, dass der Vorabdruck am 1. Januar 1947 schon die 70. Fortsetzung erreicht hatte. Bereits am 5. Oktober 1946 wird der Vorabdruck in einer Besprechung von Walter Lennig (Jg. 2, Nr. 233, S. 3) angekündigt, und zwar als am nächsten Tag beginnend. Die Besprechung enthält neben einer Charakterisierung des Buches und seiner Absichten auch biographische Angaben zu Rein, die den Wikipedia-Artikel ergänzen. – Damit ich meine Anmerkungen zum Roman nun endlich ‚veröffentlichen‘ kann, habe ich darauf verzichtet, auch nur in Stichproben (abgesehen von der letzten Fortsetzung, s. Anmerkung 2) zu untersuchen, ob oder wie Vorabdruck und Buchausgabe voneinander abweichen (das würde Zeit brauchen, schon allein weil der Server der SBB-PK die Bilder der Zeitungsseiten nicht gerade schnell ausliefert …).
² Der Schluss des Romans weicht in der letzten Folge des Vorabdrucks (Berliner Zeitung, Jg. 3, Nr. 40, 16.2.1947, S. 3) sowohl von der ersten Buchausgabe als auch von der überarbeiteten Fassung von 1980 ab: Zwischen der Szene, in der Wiegand dem ersten russischen Soldaten begegnet (2015 S. 743) und dem letzten Kapitel, das beim sowjetischen Militärkommandanten spielt (»Der neue Anfang?«), fehlt das Kapitel »Das Ende«, in dem Rein – abseits des Handlungsstrangs, der die Erlebnisse der Protagonisten darstellt – die Kapitulation Berlins durch General Weidling schildert. In der Zeitungsfassung treten im Schlusskapitel nur Wiegand und Dr. Böttcher dem sowjetischen Major gegenüber, weder von Lassehn noch von Schröter begleitet. Von kleineren Korrekturen stilistischer Art oder von schlichten Druckfehlern abgesehen, fällt Folgendes auf: »An einem großen Tisch sitzt ein russischer Major, mit dem Rücken zum Fenster. Sein blondes Haar ist an den Schläfen angegraut, […]« (Berliner Zeitung)
»An einem großen Tisch sitzt ein russischer Major mit dem Rücken zum Fenster, sein dunkles Haar ist an den Schläfen angegraut, […]« (2015 S. 749) – Das Bild scheint etwas nachgedunkelt … Natürlich fehlt auch der Zwischenruf von Schröter, und der Satz »Die Rote Armee ist nicht als Feind des deutschen Volkes nach Berlin gekommen«, ist noch nicht getilgt (s. oben zu 1948 S. 702).
Der Absatz über den Blick aus dem Fenster (2015 S. 750f.) ist später deutlich länger als im Vorabdruck. Ursprünglich las man nicht: »Da liegt die große Stadt vor ihnen, niedergemäht von der Sense des Todes, ausgelöscht von der Brandfackel des Krieges, zerstampft von den Tritten der Heere, ein Orkan der Vernichtung hat niedergeschlagen, was sich ihm entgegenstellte, aber es ist noch ein Hauch von Atem in ihr, noch ist das Blut in ihren Adern nicht ganz erstarrt, noch ist der Wille ihrer Menschen nicht völlig gebrochen.« Schade, diese Ballung von konventionellen Metaphern zu Allerweltspathos hätte man in der ersten, vermutlich roheren Fassung viel leichter den noch aufgewühlten Gefühlen des Autors zugute gehalten (mag sein, dass der Redakteur der Zeitung sie gestrichen hat). – Von den ›Schreien der vergewaltigten Frauen‹ ist, wie zu erwarten, in der
Berliner Zeitung im Februar 1947 noch nicht die Rede.
°° Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass Rein die Prophezeiungen der Nazipropaganda vom unvermeidlichen Ost-West-Konflikt, vom ›Eisernen Vorhang‹ und von der ›Versklavung‹ der Mitteleuropäer in den 1940er Jahren für absurd hielt, 1980 aber zu viel Wahrheit darin fand. Er wollte, meint man zu verstehen, als Antifaschist, der er immer noch war, vermeiden, dass
Leser der 1980er Jahre den Nazis in diesen Punkten (ein bisschen oder ein bisschen zu viel) beipflichten würden. Kriegk, Ley und Goebbels wollte er immer noch nicht Recht geben, jedenfalls nicht explizit. [Nachtrag, 13.7.2022]
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5. März 2017
Aus der Rubrik Gelesen und weggestellt:
Benedict Wells:
Vom Ende der Einsamkeit, Frankfurt a. M.: Büchergilde, 2016 (OA Zürich 2016).
– Statt einer Kurzkritik sozusagen ein O-Ton, aus der »Danksagung« des Autors auf S. 355: »Bei diesem Buch möchte ich zuallerst meinen Eltern danken. Meinem Vater für seinen Humor und all die liebevollen, inspirierenden Gespräche. Meiner Mutter für ihre Zähigkeit in schwierigen Phasen und ihren Glauben an mich. Sehr unterstützt hat mich auch U… B…. Welch ein Glück, sie als Lektorin zu haben. … P… K… gab mir für dieses Buch so viel Zeit, wie ich wollte. Sein Vertrauen und sein unermüdlicher Einsatz bedeuten mir sehr viel. Ein lautes ›¡Muchas Gracias!‹ auch an alle anderen bei Diogenes, … In Erinnerung an D… K…, der mich damals in seinen Verlag holte und so zu einem wichtigen Weichensteller in meinem Leben wurde. So viel Schönes, was ich seitdem erleben durfte. Das kann und werde ich ihm nie vergessen.« – Wer nicht versteht, warum ich das abgeschrieben habe, dem könnte der Roman vielleicht gefallen.
Patrick Modiano:
Gräser der Nacht, aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Frankfurt a.M.: Büchergilde, o. J. (EA der Übersetzung: München 2014, OA: L'herbe des nuits, Paris 2012).
– Es wäre mir zu umständlich, den geschmäcklerisch-überheblichen Umgang des Autors mit der französischen Zeitgeschichte und seinen arg von Paul Auster inspirierten Umgang mit dem Stadtplan von Paris zu charakterisieren. Melancholische oder bloß triste Rätselhaftigkeit vor dem Hintergrund angeblich brüchiger, nichtssagender Tatsachen (Straßennamen zum Beispiel), vielleicht ist ein Mord passiert, vielleicht ist diese Frau, die man vielleicht liebt, die Schuldige oder mitschuldig, irgendwie verstrickt jedenfalls, wer weiß … was zählt, sind die Beziehungen zwischen Menschen … die ihre Identität aber nicht festhalten können (was nützen schon Pässe und Geburtsurkunden?), sie schließlich als Illusion erkennen müssen.
»Fast hätte ich gefragt, warum sie ihm Rechenschaft schuldete, aber nach kurzer Überlegung erschien mir das zwecklos. Ich glaube, damals hatte ich schon begriffen, dass nie irgendwer auf Fragen antwortet.« (S. 69f.)
So ist das also. Schulterzucken (Ecke Rue de Rennes - Boulevard Raspail, von der Gare Montparnasse kommend, vermutlich) …
Postmoderne, man kennt das, überdeutliche, ziemlich matte Postmoderne mittlerweile. Modiano wird in anderen Werken besser sein (obwohl schon Leute für sehr schlechte Werke Literatur-Nobelpreise bekommen haben, Pearl S. Buck zum Beispiel), auch dieser Roman mag in der Originalsprache seine Reize haben (womit ich ganz und gar nicht andeuten will, die Übersetzung sei schlecht), ich werde mir nicht die Mühe machen, es herauszufinden. – Kann aber gut sein, dass hier noch öfter vom Verhältnis der erzählenden Literatur zur Geschichte (resp. Wirklichkeit) die Rede sein wird und ich dann auf diesen Typus zurückkommen muss. In Modianos Roman, mit seinen massiven Bezugnahmen (Anspielungen kann man das nicht mehr nennen) auf die Affäre Ben Barka – Elisabeth Edl teilt dem deutschen Leser in einer knappen Nachbemerkung sinnvollerweise mit (besten Dank!), dass ein Franzose bei den dargestellten Vorgängen unweigerlich an diese berühmte Geschichte denken muss, die den Hauch des Mysteriösen mitbringt –, ist dieser Typus vielleicht sogar markant ausgeprägt. (puh, das wird anstrengend)
10. Februar 2017
Janwillem van de Wetering:
Massaker in Maine, deutsch von Hubert Deymann, Reinbek 1993, OA 1979
(aus dem Büchertauschschrank auf dem Neumarkt in der Mannheimer Neckarstadt West, gelobt sei die Einrichtung!)
Ist van de Wetering (1931-2008) völlig vergessen? Der Krimibuchmarkt ist schnelllebig (denke ich mir), Zen-Buddhismus gerade nicht besonders en vogue – und so schlimm wäre es auch nicht, van de Wetering hat den Kriminalroman nicht auf neue Höhen gehoben (seine van-Gulik-Biographie ist auch nicht besonders). Manche Züge sind trotzdem noch modern, da ist das Interesse für das Privatleben(, die Gourmandise) und die geistige Entwicklung der Detektive, die sich nicht immer leidenschaftlich für ihre Fälle interessieren, außerdem die Nutzung des Reihencharakters für eben diese Entwicklung … Letzteres hat er von seinem größeren Landsmann doch gelernt.
Noch in den 80ern war van de Wetering in linksliberalen Deutschlehrerkreisen (das ist kein Pleonasmus, ich habe ein bayerisches Gymnasium besucht) und so ziemlich IN, ist mir damals aber eigentlich immer auf den Wecker gegangen mit seiner Zen-Amoralität (ausgerechnet im Krimi), dem zugehörigen leichten Erleuchtungsdünkel und den unvermeidlichen antideutschen Seitenhieben (die man den Holländern natürlich nicht 'mal übelnehmen konnte).
Massaker in Maine fand ich jetzt richtig gut lesbar, obwohl gar kein Massaker stattfindet, sondern eine Reihe von teilweise länger zurückliegenden Todesfällen aufzuklären ist, eigentlich von einem wasch(bär)echten amerikanischen Sheriff (ich erkenne sogar eine gewisse Verwandtschaft mit Sheriff Bell aus
No Country for Old Men), in dessen County aber zwei Beamte der Amsterdamer Kriminalpolizei hereingeschneit kommen (zusammen mit reichlich richtigem Schnee). Die Situation gibt dem Autor Gelegenheit, interessantes Personal einzuführen, ein paar europäisch-amerikanische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu studieren – und in Gestalt einer undurchsichtigen Bande von jungen Leuten mit buddhistischem Existentialismus (oder umgekehrt) zu experimentieren.
Diesmal kommt statt eines unsympathischen Deutschen ein Schwächling von amerkanischem Nazi vor. Der Anführer der Bande spielt ein wenig mit ihm, weil er etwas über richtige Übermenschen lernen will; klar, der braune Spinner ist eine Enttäuschung, für die Suche nach dem Übermenschentum hat aber auch der Amsterdamer Commissaris Verständnis. Er fragt den Bandenchef nach Reue* (weil er ein Bandenmitglied in ein Experiment mit tödlichem Ausgang geführt hat). »Überhaupt keine Gefühle?« »Wenn ich welche habe, dann sind es gute Gefühle.« (S. 172f.) – Leute, die sich mit so einer Haltung irgendwelchen armen Socken, die sich mit ganz unguten Gefühlen und glücklos abstrampeln, überlegen fühlen, bringen mich schnell zur Weißglut. Das ist nicht gut im Überlebenskampf da draußen im endzeitlichen alten Europa; speziell wenn man auf
die Sorte trifft, muss man ganz entspannt sein – Brigadier Rinus de Gier gibt bei einem anderen kleinen Spielchen dieser talentierten jungen Leute selbst ein gelungenes Beispiel … Ok, so ein Buch ist schon brauchbar beim unblutigen Experimentieren (in meinem alten Jugendzentrum pflegten ein paar Leute ›Hirnwichsen‹ zu sagen), mit dem wir ja nicht aufhören wollen, bloß weil wir aus dem Alter, in dem uns das lässig gut steht, längst raus sind.
PS: Van de Wetering gelingt eine ganz hübsche Verpflanzung des taoistischen Einsiedlers Meister Kranichtracht aus van Guliks
Mord im Labyrinth auf eine kleine Insel an der amerikanischen Nordostküste. – Aber Richter Di, zehntausend Jahre möge er leben, erliegt nicht der Faszination der inneren Leere!
*
Nachtrag, 20.12.2017: Wenn man die Fähigkeit, Reue zu empfinden, nicht für eine Grundlage von Moral hält, lehnt man noch nicht Moral überhaupt ab (und das wollte ich van de Wetering auch nicht vorwerfen). Diesen Monat habe ich aus besagtem öffentlichen Bücherschrank seine Storysammlung
Inspektor Saitos kleine Erleuchtung (Reinbek 1986, Originaltitel:
Inspector Saito's Small Satori)
herausgeholt. Die Titelfigur wird in diesen Geschichten vor schwierige Aufgaben gestellt, die moralische Entscheidungen verlangen. An Saitos Integrität wird man nichts auszusetzen haben. Mir scheint bloß, dass die Gerechtigkeitsprinzipien, nach denen er handelt, mit den buddhistischen Lehren, die er empfängt, nichts zu tun haben – bis auf den einen Punkt, dass Saito nämlich ein unerschütterliches Selbstbewusstsein entwickelt, auch Fragen von Leben und Tod aus sich allein beantworten zu können. Weder die Grundsätze noch ihre Anwendung auf die Fälle erfordern auch nur diskursive Überprüfung. Nachdenken führt – das schärft der weise Onkel dem jungen Kriminalisten ein – vom Wesentlichen ab. Aber da hat der Onkel, mag er tiefsten inneren Frieden gefunden haben, Unrecht, und wenn er noch so schöne Gleichnisse erfindet, um expliziten Fragen aus dem Weg zu gehen.
24. Oktober 2016
Die Privatsphäre der Literaten – Über ein Interview mit Fritz J. Raddatz (2014), Literatur-Journalismus und vielleicht auch über guten Geschmack
Jeder, der Umgang mit einem Schriftsteller hat, riskiert, dass er Stoff zu dessen Werk wird. Thomas Mann war berüchtigt dafür und hat Kollegen und Kritiker keineswegs verschont – der Habitus und Eigenheiten von Gerhard Hauptmann und Georg Lukács zieren Figuren des
Zauberbergs. Erreicht der Literat eine gewisse Berühmtheit, trifft es früher oder später auch Personen, die bloß in seine Tagebücher Eingang gefunden haben. Ebensowenig sicher sind die Briefpartner oder die in Briefen erwähnten; unter dem Vorwand der philologischen Redlichkeit wird auch von Nachlassherausgebern ungekürzt alles der Öffentlichkeit preisgegeben, spätestens wenn die Betroffenen tot sind und sich nicht mehr sträuben können.
Es gibt ein Interesse am Privatleben von berühmten Menschen, auch an dem von berühmten Dichtern, das ungefähr in dem Maß, in dem Künstler überhaupt einen Namen haben, von der Literatur auch befriedigt wird (das eine ist vom anderen ja nicht unabhängig): Über das Leben der Urheber des Nibelungenlieds wissen wir nichts, weil wir die gar nicht kennen; aber Walter hat selbst seine Freude und Erleichterung über seine endlich erreichte Versorgung zum Gedicht gemacht (»Ich hân mîn lêhen«) und darin auch gleich gesagt, was das mit seinem Dichten zu tun hat: Arm war er »sô voller scheltens daz mîn âten stanc«, nun glaubt er endlich wieder rein und ohne Bitterkeit singen zu können. Das kleine Dank- und Erleichterungsgedicht ist nicht sein schlechtestes.
Peter Rühmkorf hat ganz gewiss das lyrische Ich auch nicht säuberlich vom Personalpronomen, das auf den Sprecher verweist, getrennt. »I c h? – halt mich straight an die zentral von mir Ergriffnen und hab schon manchem Strickstrumpf beigelegen nur seines übersinnlichen Gehaltes wegen. Wahrlich, so war ich – – – (nix Enthüllung!) –«.
Etwas anderes ist es aber schon, wenn ein Journalist Gespräche mit der Frau des mit ihm befreundeten Dichters verwertet, veröffentlicht, in Interviews darüber spricht. In seinen Tagebüchern hat Raddatz (offenbar, ich habe die veröffentlichte Version ebenso wenig gelesen wie die ursprüngliche) Persönlichstes, intimste Details nicht nur von sich notiert. Dazu kann ein Tagebuch da sein. Wenn man so ein Tagebuch zu eigenen Lebzeiten drucken lässt, muss man über eine gehörige Portion Narzissmus und Eitelkeit verfügen. Von einer Figur des Literaturbetriebs, die sich einige Jahrzehnte lang immer wieder bemerkbar gemacht hat, wird man vermuten können, dass sie mit diesen Gaben einigermaßen reichlich gesegnet ist. Erweist der Literat, der wenigstens auch Literaturkritiker ist, der Literatur damit (ich spreche über ein imaginiertes Raddatz-Tagebuch, das ich mir nach dem Interview zusammenreime, auf das ich noch zu sprechen komme) einen Dienst?
Das ist keine rhetorische Frage, denn wer gedruckte Tagebücher dieses Kritikers liest, wird
irgendein Interesse an der deutschen Literatur der letzten 60 Jahre haben. Und er wird bei der Lektüre auf Namen stoßen, die er vielleicht noch nicht kennt, oder er wird an Autoren erinnert werden oder sie irgendwie in neuem Licht sehen. Wenn man für Literatur Werbung machen könnte wie für andere Artikel auch (und wenn man für irgendwelche Artikel Reklame machen sollte), dann könnte ein erfolgreiches Buch – selbst voller Tratsch – so funktionieren und alles wäre ziemlich gut.
Aber so ist es nicht. Außer wenn man dafür bezahlt wird und anders seinen Lebensunterhalt nicht zu fristen vermag, sollte man natürlich keinesfalls für schlechte Literatur Reklame machen. Davon gibt es viel zu viel und wenn sie nicht als solche erkannt wird, hält sie von der Lektüre guter Literatur ab. Und weil es schon viel Reklame für schlechte Literatur gibt, wäre es besonders erfreulich, wenn Leute, die etwas davon verstehen und nicht gezwungen sind, Werbung zu machen, in ihren Veröffentlichungen über gute und schlechte Literatur und die Unterschiede reden würden. Ein Mann, der allerhand gelesen und erlebt hat, der es nicht mehr nötig hat, Beziehungsrücksichten zu nehmen (und das auch nicht tut), dem man also sozusagen in positiver wie negativer Hinsicht ein reifes Urteil zutrauen würde, sollte das tun.
Nun hat ein sehr eitler, in seiner Selbstliebe mannigfach und von vielen gekränkter alter Mann auch andere Bedürfnisse; einige davon befriedigt er offenbar durch die Publikation eines Textes, in dem er auf Tote gar keine und auf Lebende nur die vom Gesetz gebotene Rücksicht nimmt. Das sind keine Motive, die vorab sehr für das Buch einnehmen, aber trotzdem kann es selbst gute Literatur sein, das ist immerhin möglich. Darüber kann ich nicht urteilen, ich hab's nicht gelesen.
Ich nehme mir stattdessen ein immer noch und leicht zugängliches Interview mit Raddatz anlässlich des Erscheinens seiner
Tagebücher 2002-2012 vor, das 2014 von Sven Michaelsen (mir anderweitig nicht bekannt) fürs »SZ-Magazin« geführt wurde (im Wikipedia-Artikel zu Raddatz gibt es in der ersten Fußnote einen Link darauf). Die beiden sprechen anfangs über Sex und Familie, R. nimmt wahrlich kein Blatt vor den Mund; man kann davon halten was man will (ich kann dieser Art von Offenheit etwas abgewinnen, über meine Gründe vielleicht ein andermal), die Literatur als Kunst ist davon sozusagen nicht betroffen. Michaelsen bringt dann den ersten Namen ins Spiel, den einer ehemals mit R. befreundeten Prominenten, einer noch lebenden Kunstmäzenin. Der bekannte Name gibt der kleinen Geschichte eine zusätzliche (Maggi™-)Würze, das ist alles.
Dann geht es um persönliche Beziehungen zwischen dem Kritiker und dem von ihm besprochenen Schriftsteller, erst einmal um Günter Grass. Der war mit R. lange befreundet und dann haben sie angefangen, über einander sehr uncharmante Dinge zu sagen. R. rechtfertigt im Interview einen Vergleich, in dem es um die dichterische und männliche Potenz geht, so: »Da Grass in einem übrigens scheußlichen Gedicht selber geschrieben hat: ›Er steht mir noch, aber nicht so oft‹, darf ich so etwas schreiben. Es ist nun mal so, dass Indiskretion zum Wesen eines Tagebuchs gehören. Ich bin ja auch mir selber gegenüber indiskret.« Das ist sehr schwach, denn ein Tagebuch ist etwas anderes als ein gedrucktes Tagebuch und sich selbst gegenüber kann man nicht indiskret sein. Weil der Interviewer das Thema der Indiskretion vertieft, bleibt es nicht bei diesen Ausflüchten. R. notiert und publiziert ein Gespräch mit Rühmkorfs Frau Eva über (sagen wir) die Gestalt eines anatomischen Details an privater Stelle nach einer schweren Operation an Rühmkorf. R. sagt dazu: »Ich habe lange überlegt, soll ich das weglassen? Ich hätte es weggelassen, wenn Eva noch lebte. Jetzt ist es Literaturgeschichte – als würden die Brüder Goncourt etwas über den Schwanz von Balzac schreiben.« Käme der Schwanz Balzacs wunderlicherweise in den Tagebüchern der Goncourts vor, wäre das vielleicht schon Literaturgeschichte, aber das läge an diesen Tagebüchern und nicht daran, dass es Balzacs Organ (und dieser tot) war. Nur wenn R. von der Prämisse ausgeht, seine Tagebücher hätten vergleichbaren literarischen Rang, taugt sein Argument irgendetwas. R. hängt die Latte ziemlich hoch.
Und im Interview geht es damit immer noch nicht um Literatur: Die literarische Qualität des R.schen Tagebuchs wird nicht zum Thema (darüber wäre mit ihm wohl schwer zu reden gewesen und es gibt ja genug stoffliche Reize …). Michaelsen meint den Lesern und R. mitteilen zu müssen: »Künstler von Rang, das gehört zu ihrer Natur, sind monströse Totalegozentriker.« Ja? Ist selbst ein bekannter Egozentriker wie Thomas Mann gleich ein solcher? Joyce? Goethe? Byron? Gide? Camus? … Soll die Phrase nicht bloß die Indiskretion decken? ›Die Künstler sind alle so, zur Freundschaft und Loyalität unfähig; in dieser Sphäre ist Diskretion absurd, sie selbst haben gar kein Organ dafür.‹ Und selbst wenn's so wäre, was ist mit den Retourkutschen gewonnen?
R. erwähnt noch eine von Hubert Fichte (ausweislich einer indiskreten Publikation) nicht ganz erwiderte Freundschaft, obwohl man zusammen sehr Privates (R. belässt es nicht bei einer Andeutung) unternommen hatte. – Fichtes Namen habe ich schon lange nicht mehr gelesen; allzu viele Jüngere werden ihn nicht kennen. Wird diese Erwähnung jemanden veranlassen, mehr über ihn zu lesen und sich dann vielleicht eines der (immerhin lieferbaren) Werke zuzulegen (die nach meiner Erinnerung gut sind)? Ich kann's nicht glauben. Ein Schriftsteller wird nicht einmal interessant, bloß weil man erfährt, dass er mit einem bekannten Kritiker gemeinsam ein spezielles Haus besucht haben soll.
Im zweiten Teil des Interviews gibt es scharfsinnige und in gutem Sinn schonungslose Bemerkungen von R. über das Alter. Die oder ähnliche lese man beizeiten (zumal wenn man sich selbst nicht frei von Narzissmus wähnt) und bereite sich vor! Aber für die Literatur ist nichts getan worden, nicht für Lyrik und Roman und nicht einmal für autobiographisches Schreiben. Es wurde bloß Reklame für eine Neuerscheinung aus dem Hause Raddatz getrieben. Von den Kollegen vom SZ-Magazin.
Und über das Verhältnis des autobiographischen, intimen Stoffs zur Literatur, die Kunst ist, haben wir nichts erfahren. Wir wissen immer noch nicht genau, warum die Brüder Goncourt Balzacs Schwanz
nicht erwähnt haben.
16. Oktober 2016
Eine kleine Zwischenbemerkung über einen Büchermenschen:
Fritz J. Raddatz (1931-2015)
war in den 80ern noch der Literaturgegenpapst und jedenfalls ziemlich omnipräsent im Literaturbetrieb. Obwohl ihn ein Deutschlehrer, den ich schätzte, hochhielt, war er mir eher suspekt, jedenfalls unsympathisch (wahrscheinlich ziemlich grundlos, so reagierte man damals als aufmüpfiger Schüler halt auf das, was die Lehrer gut fanden …). Zu dem Buch von Heinz Rein, zu dem ich noch etwas sagen werde, hat er (relativ kurz vor seinem Freitod) ein Nachwort geschrieben, das ich mit Gewinn gelesen habe. Über die ziemlich dürftige Wikipedia-Seite (die mal wieder nur den Raddatz der Internet-Epoche kennt) bin ich auf ein
spätes Interview (vom Januar 2015) gestoßen, das Arno Widmann mit ihm anlässlich des Erscheinens seines letzten Buches für die »Frankfurter Rundschau« geführt hat. (Für die, seinerzeit noch ernsthafte Konkurrenz einer anderen überregionalen Zeitung aus derselben Stadt, hat auch besagter Deutschlehrer in jungen Jahren Buchbesprechungen geschrieben …). Und das zeigt ihn als ziemlich unspießigen Mann, dessen Urteile über Literatur ganz gute Wegweiser sein könnten (und von dem man ganz bestimmt etwas lernen könnte, wenn man ernsthaft über Literatur urteilen wollte). [Über ein anderes Interview, das einen anderen Raddatz zeigt, s.o.]
16. Oktober 2016
Jonathan Franzen:
The Corrections, London 2010 (EA 2001)
Über Jonathan Franzens
Corrections ist schon viel geschrieben worden (das schließe ich aus den vielen Zitaten aus Besprechungen, mit denen der Verlag die Taschenbuchausgabe ziert); alle Leute, mit denen ich darüber geredet habe, waren einhellig der Meinung, dass es sich um große Literatur handelt. Als Roman einer Familie ist er unter anderem mit den
Buddenbrooks verglichen worden und das finde ich als Anzeige des Kalibers, mit dem man es hier zu tun hat, ganz passend. In seiner klassischen Erzählweise – die Geschichte wird von einem reifen Punkt ihrer Entwicklung aus chronologisch verfolgt und die Vorgeschichte wird peu à peu aus der Perspektive jedes Familienmitglieds in Rückschauen und Erinnerungen nachgeholt – und der dichten Verknüpfung seiner Motive ist er sicher ein lohnendes Untersuchungsobjekt in literaturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen über den Roman des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Aber auch ohne eingehende Analyse der handwerklichen Qualitäten des Werks stellt sich dem mehr oder weniger naiven Leser (der sich von der Erzählung einfach hat mitreißen lassen) die Frage, was den Nachdruck erzeugt, mit dem sich Stoff und Figuren in seinen Gedanken festsetzen und danach verlangen ›verstanden‹ zu werden. Das soll natürlich nicht heißen, dass diese Wirkung ohne die einzelnen künstlerischen Qualitäten verständlich wäre – möglicherweise ist es nicht nur gewagt, sondern schlechterdings falsch, von der Gesamtwirkung auf ein bestimmtes Individuum auszugehen, wenn man wirklich etwas über den Roman sagen will.
Solange man sich in solchen Fragen nicht einer bestimmten Methode verschworen hat, kommt es aber auf den Versuch an … Sehen wir uns wenigstens genauer an, wie der Roman seiner Erkenntnisfunktion (bei mindestens einem Leser) gerecht wird, wie er Allgemeines im Konkreten sagt, wie er durch die Fiktion Wirklichkeit erkennbar werden lässt.
Was mich beschäftigt, ist der eigentümliche Eindruck von Totalität, den der Roman hinterlässt. Obwohl kein olympischer Erzähler den Globus überschaut und das Weltgeschehen kommentiert, meint man, die Gegenwart als Ganze in wesentlichen Zügen dargestellt zu sehen. Wie kommt das zustande, wenn ein Autor eine Kernfamilie des amerikanischen mittleren Westens erfindet, die von den durchaus individuellen und besonderen Lebensumständen der Elterngeneration geprägt ist?
Ich sehe drei Elemente, die der Geschichte ihren repräsentativen Charakter verleihen. Das erste ist sozusagen geographisch und zeigt auch gleich, dass wir es mit einer ›wahrgenommenen‹ Totalität, nicht mit einer perspektivenfreien zu tun haben: Die Lamberts sind eine amerikanische Familie, sie leben teils im Westen, teils an der Ostküste, sie sind geprägt von der amerikanischen Zivilisation des 20. Jahrhunderts, von der materiellen und ideellen Kultur der Vereinigten Staaten. Also von jener Kultur, die mindestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch die Entwicklung in Europa geprägt hat und die nirgendwo auf dem Globus ohne spürbaren Einfluss geblieben sein dürfte. Auf diese Weise ist die gesamte amerikanische Gegenwartsliteratur in einem Maß für den Rest der Welt relevant, wie das deutsche oder japanische oder lateinamerikanische Literatur nicht ist. Das hat durchaus mit den Vermarktungsstrategien eines globalisierten Verlagswesens zu tun, aber nicht in dem eindimensionalen Sinn, dass eine amerikanische Kulturindustrie ›uns‹ an amerikanische Konfektionsware gewöhnt hätte. Die Resonanz von US-Literatur beruht natürlich auch auf dem Siegeszug des Englischen, ist vorbereitet von Hollywood, wird massiv befördert von der Werbung für amerikanische Erfolgstitel und -autoren usw. Sie wurzelt aber (was realistische Romane wie
The Corrections angeht) auch tiefer in der Vergleichbarkeit der Lebensweisen in der sogenannten westlichen Welt (die es in diesem Sinne halt gibt). Auch der mittlere Westen wirkt auf einen deutschen Leser nicht ohne weiteres exotisch, er versteht die Lebensfragen, die sich dort stellen, ohne weiteres.
Man könnte dieses geographische Moment wohl ausdifferenzieren und meinetwegen einen ethnischen Aspekt beschreiben. Mir scheint aber die vom Autor gewählte (falls er da eine Wahl hatte) soziale Stellung seiner Protagonisten wichtiger zu sein. Die Lamberts gehören der aufstiegsorientierten Mittelschicht an, sie sind jedenfalls Kleinbürger wie die meisten Leser des Romans auch. Der lange ziemlich rätselhaft bleibende, nur aus der von ihm selbst erzeugten Distanz geschilderte alte Alfred Lambert war Ingenieur bei einer regionalen Eisenbahngesellschaft mit gewissen Karrierechancen, die er nicht wahrgenommen hat. Er besitzt ein an Wert verlierendes Haus in einem Umfeld, das von Nachbarn geprägt ist, die ihre Schäfchen mit mehr Energie ins Trockene gebracht haben (statt nur sehr sorgfältig und der Firma gegenüber loyal ihre Arbeit zu tun). Seine Frau möchte eindeutiger dazugehören … Ein paar kleine Stufen höher oder tiefer auf der Leiter gibt es diese Konstellation in jeder ›normalen‹ Nachbarschaft, in den Elternhäusern jeder Schulklasse, in jedem Verwandtenkreis, sei es in einer ungarischen Provinzstadt, in einem Pariser Wohnviertel, in einer Vorortgemeinde von Tokio. Die Kinder werden auf möglichst gute Schulen geschickt, sie sollen studieren und – ohne sich von der elterlichen Sphäre zu weit zu entfernen – möglichst weiter aufsteigen. Franzen situiert seine Figuren nicht nur genau, was ihre soziale Lage angeht, er kontrastiert die Lamberts in dieser Hinsicht auch mit einer Familie, in der die Frau aus einem einst proletarischen Milieu kommt und der Mann eher Oberschicht-Gewohnheiten hat (und er lässt diese Ehe auch an dieser Kluft scheitern).
Eine solche soziale Lage ist für die Masse der Leser so unexotisch wie die Einfamilienhaussiedlung, in der die Lamberts leben, oder die Küchenausstattung der Hausfrau. Aber es sind gerade nicht nur die typischen Elemente der Lebensweise der Lamberts, sondern auch die ganz einmaligen Umstände, die das Familienschicksal repräsentativ machen: Sie liegen sozusagen in einem Wahrscheinlichkeitsraum, den der Autor sorgfältig abgesteckt hat und für den die Klassenzugehörigkeit (um das garstige altmodische Wort zu gebrauchen) eine determinierende Größe ist.
Damit ist noch kein Element gezeigt, dass die Handlung in irgendeiner positiven Weise bestimmen und vorantreiben würde. Wie kommt eine dynamische Struktur in diese Lage? Franzen nutzt zum einen (das kommt mir ziemlich modern vor) den altersbedingten Krankheitsverlauf bei Alfred: Seine zunehmende Demenz verändert die Familienkonstellation, ist immer schwerer zu ignorieren, stellt die anderen Familienmitglieder vor wachsende Herausforderungen.
Die Gesetzmäßigkeit der Reaktionen auf diesen Demenzverlauf innerhalb der Familie und darüber hinaus der individuellen Geschichte der Kinder ist bei Franzen aber unverkennbar vom Wesen der Kleinfamilie selbst geprägt. Die Familienstruktur verknüpft die Lebensgeschichten keineswegs bloß äußerlich, indem sie sozusagen eine Verzahnung der Biografien erzeugt. Franzen lässt stattdessen die Charaktere (nämlich die tief verwurzelten Verhaltensmuster) der erwachsenen Kinder aus den familiären Rollenverteilungen hervorgehen. Mir scheint darin ein mehr oder weniger freudianisches Element zu liegen, auch wenn Franzen natürlich nicht lehrbuchmäßig nach der Freudschen Neurosenlehre vorgeht oder dergleichen. Wahrscheinlich ist der Autor gar nicht von einer solchen Theorie abhängig (das sollte man sich aber genauer ansehen); aber diese Ableitung überhaupt ist ein sehr klassischer Zug seines Werks. Darin liegt, wie mir scheint, die stärkste Basis dafür, dass das Romangeschehen von ›jedem‹ Zeitgenossen miterlebt werden kann: Jeder in einer Kleinfamilie Aufgewachsene interpretiert das Verhalten seiner Eltern neu, wenn sie alt und schwach werden, jeder fragt sich (oder muss sich fragen), was von seinen Schwächen und Empfindlichkeiten nur Reaktion auf Wünsche und Erwartungen von Vater und Mutter ist, jeder entdeckt im Lauf der Zeit Ähnlichkeiten mit den Eltern an sich, die er sich ungern eingesteht, jeder wundert sich darüber, warum er im Kreis der Familie so schnell in alte Verhaltensweisen zurückfällt, warum er mit Eigenheiten von Familienmitgliedern so wenig Geduld hat, zweifelt, ob es sich lohnt, einiges von dem Ungesagten nach Jahrzehnten noch zur Sprache zu bringen … (Man muss das vielleicht auf die Generationen derjenigen einschränken, die um 2000 mindestens dreißig Jahre alt waren und typischerweise die Pubertät als Zeit des Konflikts erlebt haben. Franzen thematisiert, dass in der Mittelschicht viele jüngere Menschen die eigenen Eltern kontinuierlich als Freunde zu erleben scheinen – das ist für Kinderlose, die solche Leute etwa als Studenten kennenlernen, sehr exotisch, und seine Geschichte bestärkt unser Misstrauen gegenüber derartiger Harmonie!)
Franzen legt sich nicht fest, auf welche Weise genau sich Alfreds Zwanghaftigkeit und Furcht vor der eigenen Emotionalität bei den Kindern auswirkt oder Enids Konformismus und Unfähigkeit, eine Sache um ihrer selbst Willen zu schätzen. Die Einsicht seines Erzählers geht explizit nicht weiter als die der Figuren. Die aber werden durch das Schwinden der Kräfte, die die Bilder vom Selbst und von den anderen aufrecht erhalten, zu mancher Selbsterkenntnis unsanft angestoßen. Und die verhohlene Sympathie, jedenfalls das Interesse des Erzählers liegt dann doch mehr bei denen, die sich davor nicht drücken wollen. Franzen selbst scheint es weder mit dem (glücklicherweise schon wieder aus der Mode gekommenen) postmodernen Mystizismus noch mit der rein physiologischen Interpretation der eigenen Seelenvorgänge zu halten, die gegenwärtig von den Biowissenschaften in die Alltagsweltanschauung absinkt.
Das tut dem Roman gut – in den Augen eines Lesers, der ebenfalls aus einer Familie mit drei Kindern (zwei Jungs, einem Mädchen) kommt, der in einem Elternteil der Lamberts ein eigenes fast schmerzlich wiedererkennt und sich nicht zuletzt deshalb wieder einmal vornimmt, bei der Familienfeier an Weihnachten nicht nur die Gans zu loben, sondern auch mehr Verständnis zu zeigen, ohne jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Wenn's denn möglich ist.
Franzens
Corrections bringen etwas zur Darstellung, was mit dem Kern der westlichen Zivilisation in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium (die Gegenwärtigkeit des Buches wäre ein anderes Thema …) zu tun hat. Weil seine Mittel diesem Stoff gewachsen sind, wird es viele Leser geben, die ihre höchst eigenen Angelegenheiten im Buch verhandelt finden werden. Und die daraus mehr darüber lernen werden. Und daher ist das ein Roman, dem man viele Leser wünscht.
22. September 2016
Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, hrsg. von Johannes Hürter, Darmstadt 2016 (Eine Publikation des Instituts für Zeitgeschichte, München – Berlin)
Gotthard Heinrici war als Kommandierender General des XXXXIII. Armeekorps am Angriff auf die Sowjetunion und speziell an wichtiger Stelle an der Schlacht um Moskau im Herbst und Winter 1941/42 beteiligt. Auf diesen Zeitraum konzentriert sich die von Johannes Hürter edierte Auswahl aus dessen Aufzeichnungen. Heinrici war, wie Hürter in seiner von souveräner Sachkenntnis zeugenden Einführung herausarbeitet, ein »ganz normaler Wehrmachtsgeneral«. Er hatte als Offizier bereits am ersten Weltkrieg teilgenommen und sein Weltbild wurde durch die Niederlage von 1918 nachhaltig erschüttert. Bei einigen Vorbehalten hat er sich willig (und mit Stolz auf die dadurch beförderte eigene Karriere) an der Aufrüstung und den Kriegsvorbereitungen der Nazis beteiligt und sich schließlich mit einer gewissen beruflichen Begeisterung in dem verbrecherischen Angriffskrieg gebrauchen lassen.
Dabei war Heinrici alles andere als ein brutaler Unmensch: Um seine Untergebenen kümmert er sich sehr engagiert, er nimmt während des Feldzugs selbst immer größere Strapazen in Kauf und orientiert sich buchstäblich an vorderster Front nicht nur über die militärische Lage, sondern auch über die Versorgung und den Gesundheitszustand seiner Leute. Zudem ist er von einer pietistischen Frömmigkeit geprägt – er bringt es fertig, in Momenten drohender Niederlagen und Katastrophen, seinen Gott um Schutz und Hilfe anzurufen und sein Schicksal in dessen Hände zu legen. Dass er tief in einen Vernichtungskrieg verwickelt ist, ist ihm durchaus bewusst, zeitweise widersetzt er sich auf dem Rückzug sogar punktuell der Strategie der ›Verbrannten Erde‹, weil er erkennt, dass sich das Reich damit um die letzten Sympathien antisowjetischer Bewohner bringt. Aber er ist weit davon entfernt, etwa in der ›Partisanenbekämpfung‹ auch nur die Einhaltung des Kriegsrechts durchzusetzen. (Es gehört zu den verstörendsten Teilen seines Berichts, wenn man liest, dass sein Übersetzer, ein Königsberger Universitätsdozent für Landwirtschaft, aus eigenem Antrieb durchs Hinterland streift, um vermeintliche Partisanen aufzuspüren, die er dann selbstherrlich aufhängen lässt; sogar in Sichtweite von Heinricis Unterkunft, der allerdings beim Frühstück nicht durchs Fenster auf Hingerichtete blicken möchte …)
Die Tagebucheinträge, Briefe und Berichte an die Familie aus dieser Zeit sind vollständig abgedruckt, eine Auswahl von autobiographischem Material aus der Zeit davor (u.a. Besatzung in Frankreich) und danach (bis zum endgültigen Zusammenbruch – Heinrici hat sehr lange ›das Vertrauen des Führers‹ genossen!) rundet das Bild ausgezeichnet ab.
Wie in keinem anderen Buch bisher wird mir aus diesem klar, wie sich der Krieg im Osten sowohl an der eigentlichen Front als auch im strategischen Maßstab abgespielt hat – Heinricis mittlere Perspektive scheint dafür ideal zu sein. Jemandem, dem die Verwirklichung von Moralität nicht gleichgültig ist, stellt das Buch wesentliche Fragen: Wieso kann sich ein religiöser Mensch, der, wenn man ihn fragen würde, die zentralen Gebote des Christentums selbstverständlich als bindend anerkennte, ein einigermaßen gebildeter und jedenfalls zur Reflexion (auch über das eigene Tun) befähigter Mensch im Rahmen seines beruflichen Auftrags offensichtlich mühelos über die Anerkennung des Nebenmenschen als Menschen hinwegsetzen? Warum genügen einige Formeln vom Überlebenskampf der Rassen oder des Abendlands mit dem Bolschewismus, damit Heinrici keineswegs einen rücksichtslosen Defensivkampf führt, sondern ein Land erobert, um große Teile seiner Bevölkerung zu vernichten und den Rest zu knechten?
Hürters exzellentes Buch stellt nicht nur die Fragen, sondern deutet auch die Antworten an, die im Material selbst zu finden sind. Ein verblüffend selbstverständlicher Antisemitismus (obwohl Heinricis Frau nach den Nazigesetzen ›Halbjüdin‹ ist – und er keineswegs an Trennung denkt) spielt eine Schlüsselrolle. Ebenso reibungslos funktioniert in Heinricis Bewusstsein die Verachtung der Slawen: Überall, wo er im Osten auf primitive Verhältnisse oder schlicht auf Armut stößt, bietet sich diese Erfahrung als Verstärkung des Bildes vom unterlegenen Slawentum an. Aber diese Melange aus Verachtung und Furcht vor primitiver Wildheit überlagert auch noch ohne Schwierigkeiten jede Erinnerung an die Forderung nach Nächstenliebe. Sofern dem Fachmann Heinrici, der seinen Selbstwert hauptsächlich aus der Erfüllung der beruflichen Anforderungen bezieht, die ›man‹ an ihn stellt, ein paar Rechtfertigungsgründe angeboten werden, die zu seinem Weltbild passen, funktioniert er (selbst bei wachsender Skepsis hinsichtlich der Erfolgsaussichten) als Truppenführer einerseits und Verwüster des besetzten Landes andererseits. Und post festum gelingt es ihm noch, die Schuld (an der Niederlage, keine eigentlich moralische) bei seinem Vorgesetzten, bei Hitler und seinen noch engeren Vasallen abzuladen. – Heinrici ist kein Monster; er ist mir ähnlich genug, dass ich seine Texte in jedem Aspekt leicht lese und verstehe. Und genau dadurch stellt er ein großes, bedrückendes Rätsel dar.
[Unvollständige Korrektur: »Rätsel« sollte ich nicht sagen, das verdeckt nur die Banalität der Ähnlichkeit von Menschen, die (auf ähnliche Weise) gelernt haben zu funktionieren. (2.8.18)]
22. September 2016
Kein Urteil, sondern ein Hinweis: Im aktuellen Quartalsheft der Büchergilde Gutenberg liest man einen informativen kurzen Text von Herbert Gebes über
Peter Weiss'
Ästhetik des Widerstands : Die Büchergilde bringt das Werk Ende Oktober (offenbar mit Lizenz von Suhrkamp) in einer neuen Ausgabe heraus. Debes schreibt dazu: »Denn die beiden Ausgaben des Suhrkamp Verlags (BRD) ab 1975 und die des Henschel Verlags (DDR) 1983 weichen im Text vor allem im dritten Teil, der sich eingehend mit dem Widerstand der ›Roten Kapelle‹ befasst, beträchtlich voneinander ab. […] Der Philologe Jürgen Schutte hat nun endlich eine ›definitive‹ Fassung erarbeitet, die den Text nach den Vorgaben von Peter Weiss präsentieren soll.« (S. 31) Wer das Buch, wie ich, in der alten Suhrkamp-Ausgabe gelesen hat, sieht dieser Neuedition (1200 Seiten) nun mit Spannung und einem Hauch Skepsis entgegen …
6. September 2016:
Klaus-Jürgen Bremm:
1866. Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016
Vor ein paar Wochen habe ich bei einem kurzen Elternbesuch einen Artikel über die Schlacht bei Aschaffenburg vor 150 Jahren in der Lokalzeitung (»Main-Echo«) überflogen; das hatte ich schon wieder vergessen, als ich dieses Buch bei der WBG bestellt habe. Der ganze preußisch-österreichische Krieg ist ziemlich vergessen, selbst bei Leuten, die an sich schon wissen, dass er stattgefunden hat und zum unmittelbaren Vorspiel der Reichsgründung von 1871 gehörte. Da ist es verdienstlich, wenn ein Verlag ein neues populärwissenschaftliches Buch herausbringt, in dem fast alle Schauplätze des Krieges vorkommen und er sich so wieder in die Lokalgeschichten eingliedern lässt … Einen echten Schwerpunkt scheint mir die Darstellung Bremms nicht zu haben: Die Technikgeschichte spielte eine Rolle, denn die Vorteile des preußischen Zündnadelgewehrs könnten kriegsentscheidend gewesen sein; aber besonders deutlich ist des Autors Darstellung in diesem Punkt nicht (etwa zum Zusammenhang zwischen Art des Gewehrs und Taktik, S. 92f.). Die allgemeine politische Entwicklung in den beiden hauptsächlich beteiligten Staaten nimmt relativ breiten Raum ein, aber bei der Entwirrung der österreichisch-ungarischen Verhältnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts stößt man in einer nicht allzu großen Monografie (von knapp 300 Seiten) natürlich schnell an Grenzen.
Bremm sieht und unterstreicht sogar, dass die rasche wirtschaftliche Entwicklung in manchen Territorien des alten ›Deutschen Bundes‹ erheblich zur politischen Dynamik beiträgt, weil der Maßstab der neuen industriellen Produktion auf Vereinheitlichung im dazu passenden Maßstab des nationalen Markts drängt. Man möchte es aber ein bisschen genauer wissen: Warum wird Preußen deshalb aktiv, obwohl doch die ostelbischen Junker einflussreich bleiben? Warum bleibt das fortschrittliche Baden bundestreu? Kurz: Wie weit trägt dieses Erklärungsmodell? Bremm will aber auch die Motive und Gefühlslagen der führenden Politiker nicht zu kurz kommen lassen; schließlich ist Bismarck ein populärer Name und der Mann eine reizvolle Figur, dessen Charakter man schön mit breitem Pinsel malen kann. Trotzdem ist es ein bisschen drastisch, ihm bei mehreren Gelegenheiten regelrechte Hassgefühle zuzuschreiben; oder ist das bloß Ausdruck der Tatsache, dass Bremm mit dem Wort „Hass“ modern-freigebig umgeht?
Zu Beginn und Ende skizziert der Autor auch Wertungen und Schlussfolgerungen, die die Bedeutung und Nachwirkung des Geschehens, besonders des Kriegsausgangs betreffen. Bremm will den entstehenden Nationalstaat, die kleindeutsche Lösung mit ihren verfassungspolitischen Kompromissen in Schutz nehmen: Weder sieht er von dort aus einen mehr oder weniger geraden Weg zu Hitler noch um 1866 herum überhaupt Alternativen. Letzteres Argument hat einiges für sich; eine föderale Lösung (so wie sie sich Goethe gedacht haben mag) hatte schon 1848 keinen starken Rückhalt und war dazwischen noch einmal unter den Fürsten gescheitert; Preußen hatte halt das Übergewicht, sobald Österreich ausgeschieden war, und englischen Parlamentarismus gab es nur in Großbritannien. Bremm verschließt sein Auge keineswegs vor ungesunden Folgen der Abtrennung für Österreich, wie der schwindenden Balance im inneren Machtgleichgewicht. Dass er gleich eingangs die Apologie des Nationalstaats in (modische) Europaskepsis überführt, ist gedanklich nicht ganz auf der Höhe. An Präzision, an Scharfsinn lässt es das Buch manchmal ebenso fehlen wie an wissenschaftlicher Gründlichkeit, aber die kann man von einer Publikation dieses Formats auch nicht in hohem Grad verlangen.
Unmittelbar nach der Lektüre war ich ziemlich enttäuscht von dem Buch, von einem gewissen Mangel an Konturen und Stringenz. Jetzt, da ich diese Bemerkungen aufschreibe, kann ich nicht übersehen, dass es guten Stoff zum Nachdenken bietet. Eigentlich müsste ich es – es hat wohl Stärken und Schwächen – nicht hier kommentieren, aber es gibt einen Umstand, der mich beim Lesen ein paarmal beinahe in Rage versetzt hat: Das miserable Lektorat. Man sollte erwarten, dass bei Schlachtbeschreibungen die Ortsnamen etwa stimmen und die genannten Lokalitäten mit den Ortsnamen in den abgedruckten Karten (die ungenau genug sind) übereinstimmen. Es kann vielleicht passieren, dass man Legnano (nordwestlich von Mailand) mit Legnago (südöstlich von Verona) verwechselt, aber für eine Schlacht um Venetien macht es schon einen gewaltigen Unterschied. Aber wie kann man hartnäckig die Etsch (an der sich die Chose abspielt) als Adda, die fast 150 km westlich fließt, ansprechen? Der italienische Name der Etsch (Adige) erklärt das bestimmt nicht, zumal der Fluss in den Karten eben seine richtigen Namen trägt (dort heißt der Mincio auch so und nicht Minico). Der Vogel wird auf Seite 219 abgeschossen, denn bei der Noris, an der angeblich Nürnberg liegen soll, kann es sich nur um einen solchen handeln, oder? Hat außer dem Autor, der es ein bisschen eilig gehabt zu haben scheint, niemand den Text gelesen? Zugegeben, der Name eines »Hersteller Tors« in Aschaffenburg fällt auf anhieb nur jemandem auf, der wenigstens den Herstallturm in dieser Stadt kennt. Aber man wird dann arg misstrauisch gegenüber dem Text: Was hat es mit dem schwer nachweisbaren »Osnert« auf sich, bei dessen Erstürmung das preußische 36. Infanterieregiment 432 Mann verlor (S. 218)? Ein Freund hat für mich herausgefunden, dass bei Uettingen (zwischen Marktheidenfeld und Würzburg, wo das Gefecht stattfand) ein Hügel namens Ostnert zu finden ist (der in Theodor Fontanes Buch über den »Deutschen Krieg von 1866« aber Osnert heißt); zwischendurch hielt ich einen Druckfehler (statt ›des Ortes‹) für wahrscheinlicher.
Kurzum: Der Verlag sollte die Textkorrektur nicht gänzlich dem Leser (und Käufer) überlassen – und die WBG war mal für ihr ausgezeichnetes Lektorat und entsprechend zuverlässigen Satz und Druck berühmt. Aber das Klagelied über die WBG will ich diesmal nicht anstimmen; die Anmerkungen zu »1866« sind eh schon viel zu lang.
4. September 2016:
Thea Dorn:
Die Unglückseligen, München 2016
Eine ehrgeizige Biologin, Expertin für die Genetik des Alterns, trifft bei einem Forschungsaufenthalt in den USA auf einen aus der Romantik übrig gebliebenen deutschen Physiker, der sich seinerzeit wohl mit jener Macht eingelassen hat, die auch beider Kollegen Johann Faust zur einen oder anderen Erkenntnis und Errungenschaft verholfen hat. Vom Standpunkt eines Verlagslektors sicher eine vielversprechende Idee, um deutsche Vergangenheit und Gegenwart, amerikanischen Optimismus und deutsche Bedenklichkeit, romantische Sehnsucht nach Welterkenntnis und modernes Erfolgsstreben im kompetitiven Forschungsbetrieb aufeinander prallen und in Wechselwirkung treten zu lassen, zumal eine vermeintliche Heilsbotschaft der Molekularbiologie, der vielleicht zum Greifen nahe Sieg im Kampf gegen das Altern, den stofflichen Boden abgibt, auf dem diese Begegnungen geschehen. Für viele Buchkonsumenten wäre was dabei und fürs Feuilleton ohnehin. Der Verlagslektor hat sich auch nicht getäuscht, üppiger Erfolg hat sich eingestellt.
Allein der Leser schneidet schlechter ab: Er ist nach 550 Seiten (besagter Lektor hat wohl nicht gewagt, Kürzungen zu verlangen …) nicht viel klüger als nach 50, hat allenfalls die Bekanntschaft mit einem Teufel erneuert, der seine Sache ganz gut und modern zu verkaufen weiß und der (wie Mephisto im Faust) neben dem schuldgeplagt-unglücklichen, aber spinnerten Mann aus einer offenbar noch recht zauberhaften Zeit um 1800 und der biestig-entschlossenen, bislang erfolgreichen Frau einer sehr prosaischen Gegenwart eine sympathisch-vernünftige Figur macht, auch wenn er nur als Kommentator der Erzählung auftritt.
Denn bei all diesen Spannungen, gegensätzlichen Zielen, Risiken … passiert eigentlich nichts. Der Romantiker ziert sich arg, seine Geschichte preiszugeben, ja er ist am Ende des Romans immer noch nicht recht dazu gekommen. Die sich nüchtern dünkende Naturwissenschaftlerin hört ihm ohnehin nicht zu. Er spricht unablässig so, als wäre er die Diktion einiger recht unbeholfener Werke, die er in seiner frühen Jugend gelesen haben muss (Lessing oder Wieland kommen nicht in Frage, neuere erst recht nicht), in fast zweieinhalb Jahrhunderten nicht losgeworden, hätte höchstens ein paar Wendungen von Novalis oder Brentano seinem Sprachschatz hinzugefügt. Sie redet, als wäre alles, was über Anweisungen und Protokollsätze hinausgeht, unmoralische Zeitverschwendung, die man allenfalls zur Manipulation seiner Mitmenschen in Kauf nehmen muss (also so, wie sich ein Geisteswissenschaftler mit einem gewissen Restdünkel jene Drittmittel-verwöhnten, mäßig gebildeten, arbeitsamen Quasi-Kollegen halt vorstellt). Und die übrigen Figuren sind Staffage, sie kommen und gehen (oder werden beseitigt), so wie sie gebraucht werden.
Am Schluss hat der Erzähler sogar seine liebe Mühe, die beiden Hauptfiguren verschwinden zu lassen (eine von beiden zeichnet sich schließlich durch eine Zählebigkeit aus, die das Erklärungspotenzial sogar der ausgewiesenen Expertin transzendiert, und die andere machte wenigstens anfangs einen ganz gesunden Eindruck), denn anders ist das Geschehen gar nicht mehr zu Ende zu bringen. Der Teufel hat, obwohl doch sonst ein treuer Vertragspartner, das Interesse an diesen beiden schließlich verloren; und da er dem Leser nie angedeutet hat, was er denn mit ihnen vorhatte, war es dem schon ein paar hundert Seiten früher so ergangen. (Aus Gründen, die zu erläutern hier zu weit führen würden, habe ich das Buch innerhalb meiner Familie verschenkt; es liegt mir seit zwei Wochen nicht mehr vor und ich urteile aus der Rückschau. Der Kollege, der mir das Dornsche Werk empfohlen hatte, war übrigens auch nach meiner Kritik nicht bereit, es nun direkt schlecht zu finden. In unserer Diskussion spielte der Vergleich mit Ian McEwans
Solar eine gewisse Rolle – vielleicht kann ich den nicht ganz uninteressanten Hauptpunkt der Kontroverse darüber hier gelegentlich nachtragen.)
Aus dem ungesendeten Fernsehkabarettprogramm zur Geisterstunde
[Für die Nachwelt der historische Kontext: Bundeskanzler Olaf Scholz rief am 13. November 2024 den Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin an, u.a. um ihm mitzuteilen, dass der Einsatz von Truppen eines fernöstlichen Diktators zwecks Eroberung eines europäischen Landes eine ›gefährliche Eskalation‹ sei, und um ihm 75 Minuten lang zu verstehen zu geben, dass diese Eskalation natürlich nicht für ihn, Vladimir Putin, gefährlich werden würde.]
»Persönlich verstehe ich Scholz. Er will kein Kriegskanzler werden! Lieber wird er auf den letzten Metern endgültig Kriechkanzler.«
Franz Urgestein Müntefering hat das am 17. November 2024 nicht gesagt.
René Descartes,
Discours de la méthode, troisième partie, § 2 (Œuvres, éd. Adam / Tannery, vol. VI, p. 23)
Text und Übersetzung nach:
Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences / Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen. Übersetzt und herausgegeben von Holger Ostwald. 2. Aufl., Stuttgart: Reclam 2019, S. 46–49.
[Die praktischen Grundsätze der Leute finden]
…; et que, pour savoir quelles étaient véritablement leurs opinions, je devais plutôt prendre garde à ce qu’ils pratiquaient qu’á qu’ils disaient; non seulement à cause qu’en la corruption de nos mœurs il ya peu de gens qui veuillent dire tout ce qu’ils croient, mais aussi à cause que plusieurs l’ignorent eux mêmes; car l’action de la pensée par laquelle on croit une chose, étant differente de celle par laquelle on connaît qu’on la croit, elles sont souvent l’une sans l’autre.
…; und um zu erfahren, welches ihre wirklichen Ansichten waren, musste ich viel mehr auf das achten, was sie taten, als auf das, was sie sagten, nicht nur, weil es bei dem Verfall unserer Sitten nur wenig Leute gibt, die alles, was sie glauben, sagen wollen, sondern weil viele es selbst nicht wissen; denn der Akt des Denkens, durch den man etwas glaubt, ist von dem, durch den man erkennt, dass man es glaubt verschieden – oft ist der eine ohne den anderen.
Wohllaut
… Percy Gardner fesselte durch die Kunst des Vortrages auch diejenigen, welche die Sprache nicht verstanden. Es klingt eben eine jede Sprache schön, wenn sie ein Meister des Wortes spricht.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff,
Erinnerungen 1848–1914, Kapitel X: Berlin, Leipzig 1928, S. 273 (zitiert nach der Digitalisierung von zeno.org, http://www.zeno.org/nid/20003844773)
Größe
Sehr geehrter Herr Kollege!
Durch Kollegen Haber erfahre ich, dass Sie Bedenken tragen, Ihre Unterschrift für die Förderung der anglo-amerikanischen litterarischen Hilfsaktion für Zentral-Europa herzugeben, weil Sie es ablehnen mit mir zusammen, den Sie als unabhängigen Sozialisten bezeichnet haben, auf einer Liste zu figurieren. Ich bin jederzeit gerne bereit, mich von dieser Angelegenheit zurückzuziehen, wenn ich ihr dadurch einen Dienst erweisen könnte, zumal es fraglich erscheinen kann, ob ich als Schweizer mich mit Recht an dieser Angelegenheit beteilige. Wenn ich mich dennoch nicht sogleich zurückgezogen habe, so zögerte ich einzig in der Erwägung, dass ich durch meine guten Beziehungen in dem ehemals Deutschland feindlichen und neutralen Auslande dieser im Interesse der Wiederherstellung der internationalen wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft hoch erfreulichen und wichtigen Aktion dienen zu können glaube. Unter diesen Umständen wäre es wohl das Beste, wenn wir in den nächsten Tagen die Angelegenheit in Ruhe zusammen besprächen, am liebsten Donnerstag in der Akademie; ich bin aber auch zu einer Zusammenkunft an einem andern Orte gern bereit.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
gez. A. Einstein
[an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 19. April 1920]
Abgedruckt als Anhang 5, S. 348, in: Wegeler, Cornelia:
»… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«: Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921 – 1962,
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, zitiert nach der Rezension dieses Buches von Ingomar Weiler in:
Grazer Beiträge. Zeitschrift für klassische Altertumswissenschaft,
22 (1998), 317–319 (S.319)
Dieter E. Zimmer, Gespräch mit Hubert Fichte, Die Zeit, 11.10.1974
D. E. Z.: Warum nehmen Homosexuelle oder andere ›Perverse‹ ihre Sexualität soviel wichtiger als die ›Normalen‹? Oder vielleicht nehmen sie sie nicht wichtiger, nur reden sie mehr darüber. Hat das nur exogene Gründe: diese ganze Tradition der Diskriminierung? Oder könnte es auch an der Struktur des Trieblebens selbst liegen? Ist es tiefer [!], abgründiger, beherrschender?
H. F.: Homosexuelle sprechen nicht mehr von ihrer Sexualität als anders Veranlagte, Verbalsexualisten vielleicht ausgenommen. Es fällt nur mehr auf, weil die Gesellschaft gewöhnt ist, daß nur Heterosexuelle, und nur Männer, von ihrer Sexualität reden. […] Wo sind denn die Bücher über Homosexualität der großen homosexuellen Autoren der Nachkriegszeit? Die wenigen bedeutenden homosexuellen Liebesgeschichten der neueren deutschen Literatur sind von verheirateten und ›normalen‹ Autoren verfaßt, von Wedekind, Thomas Mann, Bertolt Brecht und Hans Henny Jahnn. Die Behauptung, Homosexuelle nähmen ihre Sexualität wichtiger und redeten mehr davon als die Normalen, ist eine Insinuation, die das hervorruft, was sie zu beklagen vorgibt, nämlich Aussonderung und Psychoneurose.
(zitiert nach:
Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. von Thomas Beckermann, Frankfurt a. M.: Fischer 1985, S. 118)
Bernhard Schlink, Die gordische Schleife, Zürich: Diogenes 1988
Er wurde unleidlich wie alle unglücklichen Menschen.
(S. 10)
Auch das ist eine kleine Baukasten-Homepage, die leider nicht ganz so bescheiden daherkommt wie meine erste.
Letzte Änderung:
17.11.2024, 14:15 Uhr
© Armin Emmel